Neue Bildungsrepublik?

Vergesst den Numerus Clausus!

Adlatus sagte man früher im Scherz, heute heißt es Auszubildender: Meister Klaus Himmelsbach (links) erklärt einem "Azubi" in der Firma Herrenknecht in Schwanau (Baden-Württemberg) das Feilen an einem Metallteil.
Adlatus sagte man früher im Scherz, heute heißt es Auszubildender. © dpa / picture alliance / Patrick Seeger
Von Christian Füller · 01.09.2016
Die Zahl der Lehrverträge ist auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten. "Na und!" sagt Christian Füller. Und er fragt: "Was soll schlecht daran sein, wenn immer mehr Schüler Abitur machen?" Wir brauchen sie beide: den Lehrling und den Abiturienten.
Das jetzige Allzeithoch von 2,8 Millionen Studierenden wird nicht mehr verschwinden. 2016 bekommen wir fast die gleiche Zahl an Studienanfängern wie zur Zeit der doppelten Abiturjahrgänge 2011/12. Gleichzeitig droht ein Held der Nachkriegsgeschichte, der Vater des Erfolgsmodells "Made in Germany" auszusterben: der Facharbeiter. Woher kommt das, was bedeutet das? Hauptschulen und Lehrbetriebe sind per se unsexy. Die Bundesrepublik hat ihren Ausbildungs-Fußabdruck verändert. Von 30:70 Studenten zu Azubis im Jahr 1970 auf 60:40 heute - und das ist auch gut so. Hört auf vom NC zu träumen! Fangt an, Bildung neu zu denken.
Ein deutscher Held schwächelt, es ist der Facharbeiter. Das Ausbildungsjahr hat gerade begonnen, aber wie so oft in den letzten Jahren wird der Start in die Berufswelt von großem Jammer begleitet. Erneut haben nämlich nur rund 500.000 Jugendliche einen Lehrvertrag erhalten. In den 1980ern waren es noch 723.000, Ende der 1990er Jahre 635.000 neue Lehrlinge. Das bedeutet: Der Facharbeiter als Garant des Wirtschaftswunders hat die Schwindsucht.

Mehr Abiturienten als je zuvor

Gleichzeitig erleben wir den Boom des neuzeitlichen Bildungsbürgers: dem Abiturienten. 2016 hat fast eine halbe Million Schüler die Hochschulreife errungen. Damit wird die Abitur-Quote wieder nahe 60 Prozent liegen – und diesmal wird dieser Wert sogar ohne doppelte Abiturjahrgänge erreicht. Ein historisches Datum.
Sechs von zehn Jugendlichen eines Jahrgangs machen Abitur oder Fachabitur, für viele wirkt das immer noch wie ein Schock. "Unsere jungen Leute", pflegte Helmut Kohl einst zu sagen, wollen "auf dem bequemen Sofa des Umhegtseins sitzen" bleiben. Für Kohl waren Studenten immer mit dem Verdacht der Müßigkeit behaftet. Er war ein großer Streiter gegen hohe Abiturienten- und Studentenzahlen.

Eine zweite Bildungsrevolution

Heute wissen wir, dass der Kanzler einen Kampf kämpfte, den er nicht gewinnen konnte – den gegen eine historische Bildungsrevolution. Nach dem großen Hochschulausbau war es die zweite, schleichende Revolution. Sie begann in den 1990ern. Inzwischen hat sie ihren Höhepunkt erreicht. An den Hochschulen sind 2,8 Millionen Studierende eingeschrieben.
Die Bildungsrepublik bekommt damit in einer langen Entwicklung so etwas wie einen neuen qualifikatorischen Fußabdruck. Die Gewichte zwischen beruflicher und akademischer Ausbildung haben sich umgekehrt. Zu Beginn der Studentenrevolte standen den 1,8 Millionen Lehrlingen nur 200.000 Studenten gegenüber. Heute gibt es doppelt so viele Studierende wie Azubis.

Der neue deutsche Otto Normalschüler

Das setzt ein weltweit einzigartiges Karriere- und Aufstiegsmodell unter Druck: die berufliche Ausbildung eines Lehrlings zum Gesellen und Facharbeiter. Er war das Rückgrat der sozialen Marktwirtschaft. Das wichtigste Standbein der Bildungsrepublik heute ist der Abiturient. Er ist der neue deutsche Otto Normalschüler. Hauptschüler hingegen sind eine aussterbende Spezies.
Das sind die Fakten, und wir sollten aufhören über sie zu klagen. Wir bekommen weder die Feuerzangenbowle mit Dr. Pfeiffer in seinem kleinen feinen Gymnasium zurück. Noch können wir ein an den Zünften des Mittelalters orientiertes Handwerk wieder wachküssen. Manche Verbandsvertreter wollen zwar den Flaschenhals zum Abitur wieder verengen. Aber man kann die Uhr nicht zurückdrehen.
Denn die Eltern werden es nicht zulassen, dass man ihnen das Wahlrecht für Gymnasium und Abitur wieder wegnimmt. Und das wäre auch ganz falsch. Die technologischen Anforderungen an Berufe sind ganz andere als noch vor wenigen Jahren. Aus dem Automechaniker ist längst ein Automechatroniker geworden. Der Tischler arbeitet in seiner Werkstatt nicht mehr nur mit Holz. Seine Lehrlinge müssen Apps programmieren und den 3D-Drucker bedienen.

Bildung neu denken

Wir sollten also aufhören, über den Niedergang der dualen Ausbildung zu jammern und die Inflation des Abiturs zu beklagen. Vergessen wir den Numerus Clausus. Denken wir Bildung endlich neu und nach vorne. Sorgen wir dafür, dass in der neuen Bildungsrepublik wirklich jeder eine Chance bekommt. Das bedeutet, Schulverlierer und Nachzügler umso besser zu fördern. Und es heißt auch, dass ein Abiturient nicht zwingend auf die Hochschule geht. Gerade weil Berufe so anspruchsvoll sind, ist die Ausbildung mit Abitur eine interessante Alternative. So lassen sich beide Schlüsselfiguren deutscher Bildung retten: die Abiturienten und die Facharbeiter

Christian Füller, 52, ist Buchautor (u.a. "Die Revolution missbraucht ihre Kinder", "Die gute Schule") und Journalist mit dem Schwerpunkt Bildung.

Er schreibt für "Der Freitag", "FAZ", "Welt am Sonntag" und bloggt als Pisaversteher (pisaversteher.com)

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