Der erste Fotograf der Weltgeschichte

03.04.2012
Wie der barocke Maler Silvius Schwarz, der das Auge zu überlisten versuchte, kleidet Mathias Gatza die Fülle seines Materials in ganz verschiedene Kostüme: in das des Krimis, der Wissenschaftssatire, der Liebesgeschichte und des Heldenepos.
Wer Trauben so zu malen verstand, dass sie von Vögeln angepickt wurden, der war Meister und Magier in einem. Je täuschend echter, desto größer die Kunst. Eine ganze Epoche, das Barock, verfuhr nach diesem Stilprinzip. Trompe l’œil, täusche das Auge, hieß denn auch folgerichtig das Motto jener Umbruchszeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Mit einem Bein stand man noch abergläubisch fest im Mittelalter, während die Neuzeit schon mit den Vorboten einer Wissensrevolution wetterleuchtete.

Einer, der jene Kunst der Nachahmung der Natur perfektionierte wie kein anderer, ist der Stilllebenmaler Silvius Schwarz. Zumindest behauptet das der (fiktive) Herausgeber des Romans "Der Augentäuscher", ein notorisch erfolgloser Kunsthistoriker und Hartz-IV-Empfänger, der sein Leben der Erforschung eines Phantoms geweiht hat. Denn Silvius Schwarz’ Name ist in keinem Lexikon verzeichnet, sein Werk – angeblich gab es 40 geniale Bilder mit teilweise hocherotischen Sujets – ist verschollen. Was der rührige Wissenschaftler aber findet, ist eine Metallplatte mit schemenhaften Konturen, die zweifellos von des Meisters Hand stammt. Die Reste eines Fotos aus dem 17. Jahrhundert? Natürlich glaubt ihm niemand, bis er weitere Quellen findet, die die Geschichte des rätselhaften Barockmalers und Fotopioniers angeblich hieb- und stichfest dokumentieren.

Erzählt wird auf drei, äußerlich voneinander getrennten, aber geschickt ineinander verflochtenen Ebenen: Da ist der Herausgeber von heute, der sich auf abenteuerliche und nicht ganz legale Weise in den Besitz von Quellenmaterial aus der Zeit brachte; die auf sechs Papier-Bögen niedergelegte Chronik eines Zeitgenossen über Silvius Schwarz, die dessen Forschungen mit der Camera obscura ebenso beschreibt wie seine Hinrichtung wegen Ketzerei, nachdem ihm die schauerlichen, ganz Dresden erschütternden Kastratenmorde zur Last gelegt worden waren. Und da ist die Korrespondenz zwischen Silvius Schwarz und seiner Geliebten Sophie, einer gambenspielenden Mathematikerin, die, gewitzt und hoch gebildet, mit allen Wassern frühaufklärerischer Wissbegier gewaschen ist.

Mathias Gatza bewegt in seinem Roman tonnenschwere Stoffmassen, um ein Panorama der Zeit aufzurollen, vom (authentischen) "Teufels"-Feuerwerk in Dresden zu naturwissenschaftlichen Diskursen darüber, wie sich das Unsichtbare einfangen lässt, mit Fernrohr und Mikroskop etwa, den großen Erfindungen der Epoche bis zu philosophischen Traktaten über das "Ding an sich" und wie man ihm auf die Spur kommt. Wie schön, dass wir lesend davon nicht erschlagen werden.

Denn Gatza kleidet, seinem barocken Helden ähnlich, der das Auge zu überlisten versucht, die Fülle des Materials in ganz verschiedene Kostüme: in den des Krimis, der Wissenschaftssatire, der Liebesgeschichte und natürlich des (nicht ernst gemeinten) Heldenepos. Nicht ganz leicht zu konsumieren, ist der "Augentäuscher" eine wundersame und dabei höchst unterhaltsame Parabel darauf, dass dem Augenschein nie zu trauen ist, in der Geschichte nicht und im Leben schon gar nicht.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Mathias Gatza: Der Augentäuscher. Roman
Graf Verlag, München 2012
384 Seiten, 19,99 Euro