"Den Ort Kunstverein habe ich immer geschätzt"

Ulrich Timms im Gespräch mit Holger Hettinger · 16.07.2010
"Dass mittlerweile auch die Museen weitgehend die Aufgabe der Kunstvereine übernommen haben, also auch junge Kunst zeigen, also experimentell arbeiten, mehr als früher", bestätige den Siegeszug des Modells Kunstverein, sagt der Künstler Timm Ulrichs, Mitglied im Hannoverschen Kunstverein.
Joachim Scholl: Und in dieser Reihe (Anm. d. Red: gemeint ist die Reihe "Die deutschen Kunstvereine") setzen wir heute den Schlusspunkt mit Timm Ulrichs, einem bedeutenden deutschen Künstler. Im Frühjahr hat er seinen 70. Geburtstag gefeiert. Seit jeher in Hannover ansässig, hat Timm Ulrichs eine intensive Beziehung zum Hannoverschen Kunstverein. Seine ersten Erfahrungen sammelte Ulrichs als Student, der im Kunstverein jobbte, Bilder schleppte und Mädchen für alles war. Mein Kollege Holger Hettinger hat Timm Ulrichs getroffen und ihn gefragt, was er denn gerade in dieser früheren Zeit über den Mechanismus und die Institution eines Kunstvereins gelernt hat.

Timm Ulrichs: Die Zeit, von der Sie sprechen, das waren frühen 60er-Jahre. Ich war damals Architekturstudent, und es mangelte mir natürlich an Erfahrung im Kunstbereich ohnehin, aber auch an Geld. Und da habe ich dann die Gelegenheit bekommen und ergriffen, im Kunstverein bei Jurysitzungen eben wie ein Nummerngirl oder so Bilder vorbeizutragen, der Jury vorzustellen bei den Herbstausstellungen oder bei der damals noch existierenden Frühjahrsausstellung. Aber die Erfahrung war natürlich ganz interessant, weil man dann intime Einblicke bekommt in die Arbeit eines Kunstvereins und noch mehr oder mehr noch in die Arbeit einer Jury, was zur Folge allerdings auch hat, dass mein Respekt vor Jurys, der ich ja in der Folgezeit auch oft angehört habe, nicht sich allzu groß steigern konnte, sondern eher gemindert hat. Dieser Blick aus dem Atelier, den ich ja in den Jahren auch entwickelt habe, weil ich da ja selber in meinen formativen Jahren, wie man so sagen könnte, mich befand, der ist natürlich ein ganz anderer. Aber ich habe immer die Sicht der Künstler mehr geschätzt als die Sicht der Fachleute, und selbst die Fehlurteile von Künstlern sind meist in meinen Augen oft noch interessanter als die richtigen Urteile der Fachleute. Aber wie gesagt, das habe ich dann oft mitgemacht, habe gesehen, wie schnell so Bilder aus- und einjuriert worden sind, beinah skandalös. Man kann natürlich sagen, man hat Erfahrungen, damit auch einen ganz schnellen Blick, wie es die Liebe auf den ersten Blick gibt, die in Sekunden sich entscheidet. Da gibt es natürlich auch den ganz schnellen und sicheren Blick auf Kunstwerke, aber manchmal war mir das doch dann zu schnell, wenn dann in Sekundenbruchteilen beinah Werke abserviert wurden. Und die Künstler müssen natürlich dann, wenn sie so einen Bescheid bekommen, dann womöglich tage-, wochenlang drunter leiden. Also in meinen früheren Jahren ist es ja auch passiert, dass ich einige wenige Male ausjuriert worden bin, aber das hat mich immer ziemlich getroffen. Jetzt wagt man das nicht mehr so leicht, mich auszujurieren, ich habe auch Mittel, um mich dann zu mokieren und Leute oder mich an Leuten zu rächen, wenn man so will. Aber es geht natürlich auch nicht ganz ohne Jury. Solche Riesenausstellungen, wie es sie damals noch gab, auch in Berlin, führten natürlich dazu, dass jede Großmutter, jede Oma, die ein Kissen bestickt hat mit Blumenmotiven, ein Anrecht hatte auszustellen wie natürlich auch ein hochkarätiger Avantgardist. Und die ganz tollen Künstler haben natürlich im Laufe der Zeit gesagt, nein, in solchem Mischwarenladen möchte ich nicht mitmachen.

Holger Hettinger: Ist ja nicht das Umfeld, das man sich dann entsprechend auch sucht, wenn es aussieht wie in einer Volksbankfiliale.

Ulrichs: Ja, also es gibt schon Gründe, dass man eben auch Jurys einsetzt, und wie gesagt, ich habe das in der Folge auch praktiziert als jemand, der immerhin 33 Jahre, an einer Kunstakademie in Münster war ich, gearbeitet hat. Da mussten wir auch Mappen jurieren und damit Schicksale entscheiden. Aber ich habe mich immer als Anwalt der Künstler begriffen, da ich auch künstlerisch Autodidakt bin oder war oder bin, noch immer bin, und habe dann gesagt, wir sollen großzügig aufnehmen oder einjurieren, es wird sich schon von alleine dann die Spreu vom Weizen trennen. Also man muss den Leuten selber Gelegenheit geben, es einzusehen, dass sie vielleicht für die Künstlerschaft eben nicht genug Talent mitbringen oder Durchhaltevermögen, Durchsetzungsvermögen. Also es gehört ja eine ganze Bündelung an Eigenschaften dazu, sich dann im Laufe der Zeit einen Namen zu machen, und das ist nicht immer unbedingt das Talent, was dann obsiegt. Aber ich habe immer gesagt, man muss den Leuten Entwicklungsmöglichkeiten lassen, also den Freiraum lassen, und dann werden die Leute vielleicht selber einsehen, ob das was ist oder nicht. Und so war ich auch bei Ausstellungen immer dafür, bei diesen Herbstausstellungen etwa im Kunstverein Hannover, jetzt nicht nach dem Juwelierprinzip ganz wenige Dinge nur zu zeigen, an ganz ausgewählten Plätzen, also die Inszenierung besonders groß werden zu lassen, sondern ich habe gemeint, machen wir Petersburger Hängung und dann muss sich eben jeder Betrachter …

Hettinger: Da ist die Wand gut voll. Ihre Juryerfahrungen, die Sie gerade eben geschildert haben, so dieser erste Kontakt mit einer Jury, die den Daumen hebt oder senkt, datieren vom Anfang der 60er-Jahre. Sie haben fortan diese Institution Kunstverein Hannover über Jahrzehnte begleitet, waren auch – Sie haben es eben erwähnt – mit einer, ja, Rekordanzahl dort vertreten. Es ist ja viel passiert in den Folgejahren. Wenn man bedenkt, der Sturm der 68er ist über das Land gegangen, ein völlig neues Kunstverständnis hat sich auch etabliert, Kriterien wie Mitbestimmung oder in irgendeiner Weise Demokratisierung der Kunst wurden ja auch manifest in den 70er-Jahren. Wie haben Sie diese Entwicklung erlebt anhand dieser Ausstellungen im Kunstverein Hannover? Hat sich da viel geändert?

Ulrichs: Ja, man muss ja bedenken, dass die Kunstvereine zu den ganz frühen Bürgerinitiativen gehören. Also vor 150 Jahren haben Bürger sich abgekoppelt von dem feudalen System, das vorgegeben war durch die herrschenden Klassen, die es ja damals noch richtig manifest gab, und haben dann die Kunst oder ihr eigenes Geschick selbst in die Hand genommen und die Kunstvereine gegründet. Und der Hannoversche Kunstverein ist ja einer der frühesten überhaupt. Auch durch die Diskussion der 60er-Jahre sind die Kunstvereine ja nicht beschädigt hervorgegangen, sondern sogar gestärkt. Die Zahl der Kunstvereine hat sich enorm vergrößert im Laufe der letzten 30, 40 Jahre, und es gibt ja auch diese Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine, die AdKV, die so eine Vernetzung national bewirkt hat. Und ich habe aus Solidarität ja nicht nur mit dem Kunstverein Hannover einen Mitgliedsausweis, sondern aus Solidarität auch mit 10, 20 anderen Kunstvereinen auch. Das ist auch eine Zustimmung zu der Praxis dieser Kunstvereine, die ja eben sich um Kunst und die Entwicklung von Kunst kümmern und nicht um die Vermarktung von Kunst. Und ich war ja auch immer jemand, der sich als Forscher im Bereich der Kunst gesehen hat und nicht als ein Artikelhersteller, als ein Markenfabrikant, der eine Marke auf den Markt wirft und versucht, da einen größtmöglichen Absatz für so ein Produkt zu erzielen, sondern ich habe eben mein Atelier als Forschungsstelle empfunden – oder sehe es auch heute noch so – und den Kunstverein dann zum Beispiel als eine öffentliche Station, eine Durchgangsstation, wo man dann die Forschungsergebnisse einer Öffentlichkeit zur kritischen Würdigung präsentieren kann. Und dann gibt es natürlich noch die dritte Instanz, das ist dann das Museum, was die Werke dann, wenn sie diese Diskussionsphase überstanden haben und in ihrem Wert bestätigt sind, dann eben auf Dauer auch sammeln. Dieser Schritt Atelier, Kunstverein als nicht sammelnde Institution, also ähnlich wie die Kunsthallen – also Kunstvereine sammeln nicht, sondern zeigen nur, und zeigen eben Kunst im Entwicklungsstadium, also junge Kunst, also junge Kunst junger Künstler im Regelfall oder auch junge Kunst alter Künstler, das gilt ja für mich dann, das Letztere – und dann diese Sammelfunktion des Museums, das ist eine Dreierstufe, die ich für sehr akzeptabel halte. Dass mittlerweile auch die Museen weitgehend die Aufgabe der Kunstvereine übernommen haben, also auch junge Kunst zeigen, also experimentell arbeiten, mehr als früher, bestätigt ja nur den Siegeszug gleichsam des Modells Kunstverein. Der Kunstverein ist ja nicht nur ein Ort, wo man dann Einzelausstellungen, Gruppenausstellungen macht, Themenausstellungen, die ja immer weniger realisiert werden, auch weil sie viel Arbeit machen, aber es war ja auch ein Treffpunkt – oder sollte so sein – ein Treffpunkt zur Diskussion dessen, was da geschieht, was Künstler bewegt, was die Öffentlichkeit bewegen könnte. Und ich habe auch dem Kunstverein Hannover als Beirat lange angehört, und es gibt seit 50 Jahren fast gar keine Ausstellung im Kunstverein, die ich versäumt hätte. Natürlich gibt es verschiedene Kunstvereinsleiter mit verschiedenem Gewicht – also es gab Phasen, wo der Kunstverein mehr intern das Niedersächsische, das Regionale bedacht hat, dann gab es Kunstvereinsleiter, die mehr das Internationale wollten und das Regionale am liebsten hinauskomplimentiert hätten. Auch die Herbstausstellung hat ja in Hannover gelitten unter diesem Aspekt der Internationalisierung. Diese Herbstausstellung gab es früher jedes Jahr und gibt es jetzt nur noch alle zwei Jahre, damit man eben mehr auswärtige Künstler und auch mehr internationale Positionen zeigen kann. Aber den Ort Kunstverein habe ich immer geschätzt. Ich habe ja in einem früheren Text auch mal Wilhelm Busch, meinen sozusagen Ortsnachbar in Hannover zitiert aus "Maler Klecksel", da schreibt er dann: "Genussreich ist der Nachmittag, den ich inmitten schöner Dinge im lieben Kunstverein verbringe."

Scholl: Der Hannoveraner Künstler Timm Ulrichs im Gespräch mit Holger Hettinger über die Rolle und Bedeutung von Kunstvereinen. Damit schließen wir unsere Reihe über die Institution des Kunstvereins. Alle unsere Gespräche dazu und weitere Informationen finden Sie im Internet auf unserer Seite www.dradio.de.
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