Den DDR-Grenzopfern ein Gesicht geben

Von Jürgen König · 10.08.2012
Das Schicksal der Todesopfer an der ehemaligen innerdeutschen Grenze ist noch nicht umfassend erforscht. Ein von Kulturstaatsminister Bernd Neumann und drei Bundesländern gefördertes Projekt will nun alle Fälle untersuchen und biografisch erfassen.
Vereinzelte Untersuchungen zur Geschichte der Mauer-Toten gab es schon, vor den "Mauerschützenprozessen" etwa, die 2004 abgeschlossen wurden. Eine erste wissenschaftliche Studie zu den Todesopfern an der Berliner Mauer legte 2009 das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung vor; nach dem Vorbild dieses "Totenbuches" sollen nun zum ersten Mal alle Todesfälle an der früheren innerdeutschen Grenze wissenschaftlich untersucht werden: eine Initiative von Kulturstaatsminister Bernd Neumann.

"Natürlich geht es bei diesem Forschungsvorhaben so wie auch damals bei der Berliner Mauer um die fundierte Erarbeitung von Zahlen und dem Schicksal der Grenz-Toten. Aber gerade, was das Schicksal angeht, geht es vor allen Dingen auch darum, den Toten Namen und Gesicht und damit ihre Würde wiederzugeben. Ihre Biografien werden uns daran erinnern, wie brutal sich die SED-Diktatur und das unmenschliche Grenzregime auf die Menschen in Deutschland ausgewirkt haben."

Mit der ausführlichen Beschreibung der Lebenswege derer, die an der deutsch-deutschen Grenze starben, will Bernd Neumann insbesondere Jugendliche ansprechen. In Zeiten, in denen - Studien zufolge - die zeitgeschichtlichen Kenntnisse junger Menschen ausgesprochen gering seien, in denen die "Trennlinien zwischen Demokratie und Diktatur von Schülern mehrheitlich nicht mehr verstanden" würden, müsse die Auseinandersetzung mit dem SED-Staat noch intensiviert werden.

"So sehr es wichtig ist, Gedenkstätten als außerschulische Lernorte anzubieten, kann dies nur eine Ergänzung und kein Ersatz für einen entsprechenden Schulunterricht sein. Deshalb sind nach wie vor die Länder herausgefordert, ihren Beitrag in den Schulen, wie ich finde, zu verstärken und eine vertiefte Behandlung dieser Thematik im Unterricht zu gewährleisten. Denn das, was an Kenntnissen vorliegt, gerade auch im Hinblick auf die frühere DDR, ist nun wirklich nicht akzeptabel und erschreckend."

Mit der Studie wurde der "Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin" beauftragt. Dessen Leiter Klaus Schroeder kündigte an, in Kooperation mit anderen Forschungseinrichtungen, den Gedenkstätten, der Stasiunterlagenbehörde werde man zunächst die vorhandenen Archivdaten vergleichen und auswerten, später sollen Zeitzeugen befragt werden. Im Zentrum des Interesses: das Schicksal der Getöteten.

Auf Täterseite soll es nicht nur um Angehörige der Grenztruppen gehen: Vorrecherchen hätten ergeben, dass an Grenzübergangsstellen nicht nur Grenzsoldaten, sondern auch Zollangestellte und Passkontrolleinheiten geschossen hätten - dem will man nachgehen. Die Umstände der etwa 12.000 Menschen, die für den Bau der umfangreichen Grenzanlagen aus ihren Häusern vertrieben wurden, werden ein Thema sein, ebenso die vereitelten Fluchtversuche und die Festnahmen, die ihnen folgten: für Klaus Schroeder ein heikles Unternehmen.

"Das wird aber auch eine schwere Sache sein, denn es wird das ganze Netz des Denunziantentums an der Grenze, was ja auch vorhanden war, aufgedeckt. Wenn Sie an die freiwilligen Helfer der Grenzpolizei decken, die nicht wenige angezeigt haben, die daraufhin verhaftet wurden, inhaftiert wurden, verurteilt wurden - das ist schon eine Dimension, die bisher kaum bekannt ist."

Und er zitiert, um die Ausmaße des Denunziantentums zu zeigen, aus einer "Geheimen Verschlusssache" des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR "über versuchte und erfolgte Grenzdurchbrüche der innerdeutschen Grenze ohne Berlin von 1974 bis '79".

"Es gab knapp 5000 Versuche, die Grenze zu überwinden. 229 haben es nur geschafft, 48 sind auf eine Mine getreten. Über die Schicksale steht hier nichts. 43 haben eine Selbstschussanlage, eine Splittermine ausgelöst, und 67 sind am Grenzzaun gescheitert. Und der Rest, 4000, sind im Vorgeld von der Volkspolizei, festgenommen worden. Auch die Volkspolizei spielt eine Rolle hierbei, insofern wird der Personenkreis, der das DDR-Grenzregime realisierte, viel größer ausfallen im Endergebnis der Studien, als jetzt oftmals bekannt ist."

Für Bernd Neumann hat diese Studie nationale Bedeutung. Gerne hätte er die Länder mit dabei gehabt, aber nur drei fanden sich bereit: Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen geben zusammen 145.000 Euro, 355.000 kommen vom Bund. Staatsminister Axel Wintermeyer, Chef der Staatskanzlei Hessen:

"Wir machen hier mit, weil die Aufgabe und die Aufarbeitung dieses Grenzregimes keine ostdeutsche Aufgabe, sondern eine gesamtdeutsche Verpflichtung ist. Und deshalb verschweige ich auch nicht, dass mir das Engagement weiterer Bundesländer lieb gewesen wäre, ich hätte es mir gewünscht über die beteiligten Länder Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen hinaus."

Die Vertreter der anderen beteiligten Bundesländer bekräftigten diese Kritik; Bernd Neumann verwies darauf, dass manche der nicht beteiligten Länder schon jetzt eigene Forschungsarbeiten zum Thema durchführen - und hüllte sich darüber hinaus in diplomatisches Schweigen. Dafür, dass der Forschungsverbund SED-Staat an der FU Berlin beauftragt wurde und nicht - wie bei der Vorgängerstudie - das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung, seien - so Bernd Neumann - "sachgerechte" Gründe ausschlaggebend gewesen. Die Wissenschaftler der FU hätten schon seit längerem an dem Thema gearbeitet. Klaus Schröder von der FU Berlin nannte andere Gründe:

"Weil wir es geschafft haben, Länder in die Finanzierung mit einzubeziehen. (Neumann: Ja, das kommt noch hinzu, ja...) Wir haben schon 2008 den ersten Antrag gestellt, andere wohl auch und haben alle die Information bekommen: Sorgen Sie dafür, dass die Länder sich beteiligen, und erst danach entscheiden wir. Und nach unserem Wissensstand haben die anderen Projekte sich nicht um Ländermitfinanzierung bemüht, insofern dürfte das auch ein Aspekt gewesen sein."

Ende 2015 soll die Studie vorliegen und als "Zweites Totenbuch" erscheinen.


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