70 Jahre Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Eine treue Begleiterin der Sprache

11:58 Minuten
Ein buntes Buchstaben Wirrwarr
Sprache nicht normieren, sondern deren Entwicklung begleiten: das möchte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. © imago images / Panthermedia
Katja Lange-Müller und Ernst Osterkamp im Gespräch mit Andrea Gerk · 28.08.2019
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Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung wird 70. Sie dokumentiert die Entwicklung der Sprache - und will vergessene Autoren zugänglich machen, aber auch dafür sorgen, dass Kinder besser lesen und schreiben lernen.
Andrea Gerk: Genau heute vor 70 Jahren wurde die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gegründet, am 200. Geburtstag Goethes. Schon zwei Jahre später vergab die Akademie zum ersten Mal die wohl wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland, den Georg-Büchner-Preis, der in diesem Jahr an den Dramatiker und Erzähler Lukas Bärfuss geht.
Zur Feier des Tages habe ich gleich zwei Gäste, die Schriftstellerin Katja Lange-Müller. Sie ist seit dem Jahr 2000 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei uns ist auch der Literaturwissenschaftler Ernst Osterkamp, der seit zwei Jahren Präsident der Akademie ist.
1949 hat sich die Akademie selbst proklamiert in Frankfurt am Main, schon einige Monate vorher, in Hamburg, wurde sie aber gegründet. Herr Osterkamp, was war denn die Idee, so kurz nach dem Krieg so etwas zu gründen?
Osterkamp: Ich denke, dass da mehrere Faktoren zusammengespielt haben. Erstens musste in der politisch und kulturell unübersichtlichen Situation des Jahres 1949 so etwas gefunden werden wie eine gemeinsame Heimstatt und ein Diskussionsforum für die Schriftsteller.
Das Zweite war, dass man ernsthaft darüber nachdachte, die politisch kontaminierte Sprache wieder sprechbar werden zu lassen. Dadurch, dass man über ihre Kontaminationen nachdachte. Es gibt eine Fülle von Wörtern, die einfach nicht mehr benutzbar waren; selbst solche Worte wie "Raum" oder "Organisation" oder "Ausrichtung" oder "Mädel". Das ist für uns heute vollkommen klar. Aber darüber musste nachgedacht werden.
Ernst Osterkamp im Porträt
Steht seit zwei Jahren der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vor: Der Literaturwissenschaftler Ernst Osterkamp.© fotostudio-charlottenburg
Und das Dritte ist natürlich eine Reintegration der deutschen Literatur, denn die wichtigsten Autoren, das dürfen wir nicht vergessen, befanden sich im Jahre 1949 vorwiegend noch in Los Angeles. Es wäre eine vordringliche Aufgabe der Akademie gewesen, zu einer raschen Reintegration der Immigranten zu kommen. Aber das war ein politisch sehr komplexer Prozess, wie man zum Beispiel daran erkennen kann, wie lange es gedauert hat, Thomas Mann zum Ehrenmitglied der Akademie werden zu lassen.

Großer politischer Druck auf DDR-Autoren

Gerk: Ganz am Anfang waren auch DDR-Schriftsteller, also von der späteren DDR, dabei. Wie verliefen die Fronten? Es gab einmal das zwischen den zurückgekehrten Exilschriftstellern, die Daheimgebliebenen, dann auch politische Gräben. Wie ist das verlaufen?
Osterkamp: Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat sich immer als eine Institution verstanden, die nicht für die Bundesrepublik selbst ausschließlich zuständig war, sondern auch für die Schweizer Literatur und die österreichische Literatur – und das heißt, auch gleichzeitig für die DDR-Autoren. Die DDR-Autoren sind in der gesamten Geschichte der Deutschen Akademie bis 1989 auch regelmäßig in ihren bedeutendsten Repräsentanten zugewählt worden. Das ändert aber nichts daran, dass insbesondere in den 50er-Jahren die politische Auseinandersetzung massiv war. Ich glaube auch, aber das wird Katja Lange-Müller sicher besser einschätzen können, dass der politische Druck auf denen, die mit der Akademie zu tun hatten, aufseiten der DDR gewaltig gewesen ist.
Gerk: Wie haben Sie das erlebt, Frau Lange-Müller? Sie waren bis 1984 in der DDR.
Katja Lange Müller, deutsche Schriftstellerin
Katja Lange-Müller © Anke Waelischmiller/SVEN SIMON
Katja Lange-Müller: Na ja, Moment mal, ich bin Jahrgang 1951, da habe ich natürlich nicht so viel mitbekommen davon. Fast meine ganze DDR-Zeit über war ich gar nicht Schriftstellerin, sondern Psychiatriekrankenschwester. Schriftsetzerin, das habe ich mal gelernt. Natürlich habe ich mich für Literatur interessiert. Ich wusste auch, dass es eine solche Akademie gibt. Aber diese Feinheiten kann ich nicht so recht beurteilen. Wolfgang Hilbig wurde relativ spät erst Mitglied der Akademie. Und, das weiß ich, dass das unter den Ärgernissen, denen er ausgesetzt war, noch das geringste war.

Keine Normierung der Sprache

Gerk: Was würden Sie sagen, was heute die wesentlichen Aufgaben der Akademie sind?
Osterkamp: Es sind mehrere Aufgabenkomplexe, die vor uns stehen und die wir permanent vor Augen haben. Da ist zum einen: Wir begleiten die Entwicklung der deutschen Sprache. Wir begleiten sie, das heißt, wir haben keine normative Absicht, wir wollen sie nicht normieren. Aber wir wollen gucken, was mit der deutschen Sprache – übrigens einem wunderbaren Instrument – geschieht. Und dafür machen wir in den letzten Jahren Sprachberichte, zum Beispiel Berichte darüber, wie das Verhältnis der Standardsprache zu den Sondersprachen im Deutschen sich vollzieht - Sprache der Migranten, Sprache des Internet, Anglizismen und so weiter.
Von vielen wird das als Bedrohung empfunden. Wir sehen das eher als Bereicherung. Den wenigsten Leuten ist klar, dass, wenn ich das Wort "klar" verwende, ich das lateinische Wort "clarus" verwende. Niemand würde sich heute darüber aufregen oder das für ein Fremdwort halten. Der nächste Sprachbericht, an dem wir gerade arbeiten, und das ist ein wirklich ungeheuer drängendes Problem, ist die Situation des Sprachunterrichts in den Schulen.
Lange-Müller: Absolut. Ich glaube, das ist im Moment tatsächlich vordringlich und vielleicht etwas, dem wir uns noch stärker zuwenden müssen. Denn wir sind die Akademie, deren Kompetenz oder die sich die Kompetenz für Sprache zuvorderst auf die Fahne geschrieben hat. Erst Sprache, dann kommt die Dichtung.
Aber es ist nicht so ganz einfach, Einfluss zu nehmen, beispielsweise auf den Deutschunterricht an Schulen. Die Akademie hat keine gesetzgebende Funktion, die Akademie kann keine Lehrpläne entwickeln oder so was. Das kann sie natürlich nicht. Sie kann nur als Akademie und vor allem – und das ist vielleicht etwas, was nicht genügend geschieht – über ihre einzelnen Mitglieder, das sind viele Sprachwissenschaftler, Linguisten aber auch Schriftsteller, die können nicht länger mehr, glaube ich, wenn sie wollen, dass ihre Zunft, ihre Branche noch Leser findet in 20 oder 30 Jahren, dann können die sich dem Kernproblem, das, sagen wir mal, 30 bis 40 Prozent der Kinder eigentlich bis zum Schulabschluss nicht wirklich kompetent lesen und schreiben lernen, nicht länger verweigern. Das muss auch Schriftsteller interessieren. Und wenn das nicht interessiert, ist das fahrlässige Ignoranz.

Nicht nur mit sich selbst beschäftigt

Gerk: Also hat die Akademie auch eine aufklärerische Funktion, so eine begleitende?
Osterkamp: Das sollte jede Akademie haben. Denn wir sind nicht ein Club älterer Herrschaften, die sich mit sich selbst austauschen. Das wäre, glaube ich, nicht sinnvoll.
Lange-Müller: Wäre L'art pour l'art.
Osterkamp: Das wäre L'art pour l'art.
Lange-Müller: Aspik in Gelee. Das brauchen wir nicht. Also wir brauchen nicht diese ständige Beschäftigung mit uns selbst.
Osterkamp: Nein.

Sprache verroht nicht, sondern der politische Diskurs

Gerk: Sie schicken auch Büchner-Preisträger Jan Wagner zusammen mit Frederico Italiano raus in die Welt, Lyrik vortragen und verbreiten. Ist das eine typische Akademie-Aktion?
Osterkamp: Ich würde gerne vielleicht noch einen Punkt ergänzen. Schulunterricht ist das eine, aber das andere ist jetzt: Im Zeichen der wachsenden politischen Auseinandersetzungen fällt immer das Stichwort, dass gesagt wird, wir stehen vor einer Verrohung der Sprache – dann würde ich sagen: Nein. Die Sprache verroht nicht, sondern der politische Diskurs verroht; die Verrohungen im Internet sind noch mal eine eigene Geschichte. Es ist nicht die Sprache, der man die Schuld geben sollte, sondern den Mentalitäten und den politischen Unwägbarkeiten des gegenwärtigen Diskurses.
Jetzt haben Sie Frederico Italiano und Jan Wagner, die haben ein wunderbares Buch gemacht "Grand Tour". Ich sage immer (englisch) Grand Tour, aber das ist eben das Schöne, dass man das eben doppelt aussprechen kann. Und bei der Präsentation dieses Buches wird gewissermaßen eine Grand Tour nachvollzogen, indem dieses Buch mit Autoren aus unterschiedlichen Ländern in zehn Stationen in Europa präsentiert wird.
Lange-Müller: Zum Beispiel werden sie in der Casa di Goethe zu Gast sein, Erlangen, glaube ich, als nächstes.
Osterkamp: Anfang September in Belfast, und zwar deswegen in Belfast, weil die Akademie zusammen mit der S. Fischer-Stiftung seit dem Jahre 2012 Debatten über Europa veranstaltet, in denen intellektuelle Schriftsteller, Politiker zusammenkommen und über die jeweilige Situation eines Landes in offener Perspektive miteinander diskutieren. Und das nächste Mal wird es zum ersten Mal in Westeuropa sein - das wird Belfast sein.
Ich glaube, man kann im Moment keinen besseren Ort für eine politische Debatte über Europa finden. Genau dort wird dann abends auch wieder in einer Lesung die Grand Tour präsentiert. Und das ist der zweite Punkt, europäische Kulturverbindungen und Kulturvermittlung im Ausland. Deshalb sind in der Akademie auch viele Übersetzerinnen und Übersetzer.
Und der letzte Punkt erklärt sich auch wiederum aus den Gründungsumständen des Jahres 1949: Es war den Gründungsmitgliedern bewusst, dass eine Vielzahl von Autoren, große, deutschsprachige Literatur in Deutschland nicht präsent war, einfach dadurch, dass sie in der Emigration publizieren mussten. Von daher hat sich die Akademie von Anfang an die Aufgabe gesetzt, große Werke der Literatur, die für den Buchhandel zu kostspielig sind oder wo kein Verleger sich drauf einlässt, in guten Ausgaben der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Das geschieht im Moment dadurch, dass Autorinnen des 20. Jahrhunderts, Irmgard Keun, Riesenerfolg, mit drei Bänden, Annette Kolb, Herminia zur Mühlen, von denen viele Leute nicht mal den Namen kennen - dann auf einmal entdeckt man etwas Großartiges. Wir können das befördern, die Lektüre dadurch befördern, dass durch Stiftungsmittel die Ausgaben dann relativ preisgünstig sind.
Lange-Müller: Das ist sozusagen Punkt zwei der Aufgaben, die sich die Akademie selbst gestellt hat, vergessene oder marginalisierte Literatur wieder ins Gespräch zu bringen. Dazu sind diese Reihen sehr geeignet und sie haben auch, glaube ich, einen unterschiedlichen Erfolg. Aber bei Irmgard Keun war es geradezu erstaunlich. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, weil mir leuchtet schon ein, dass man die immer noch und immer wieder lesen kann.
Osterkamp: Der Witz bei uns ist eben der, dass für diese Ausgaben jeweils eine Patronin oder ein Patron zur Verfügung steht. Wenn also Ingo Schulze oder Ursula Krechel eine solche Ausgabe unter ihr Patronat nehmen, dann wird die Brücke zur Gegenwart geschlagen.

Zu Unrecht in vergessene Autoren

Gerk: Und was suchen Sie sich aus, Frau Lange-Müller?
Lange-Müller: Ich bin bisher um so was noch nicht gebeten worden, aber ich hätte da auch ein paar Kandidaten.
Osterkamp: Her damit, her damit.
Lange-Müller: Ja, die haben vielleicht zu wenig geschrieben und die Werke, die Gesamtwerke sind vielleicht ein bisschen zu klein. Aber es gibt schon einige Dichter, Schriftsteller auch, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen sind und die entweder zu früh gestorben sind, ich denke an Figuren wie Georg Seidel, "In seiner Freizeit las der Angeklagte Märchen" oder so.
Es gibt schon eine Menge interessante Autoren und es passiert auch immer wieder, dass Autoren in Vergessenheit geraten, zu Unrecht, Autorinnen selbstverständlich auch. Aber ich glaube, es geht auch umgekehrt: Man kann das dann auch vorschlagen, denke ich, oder? Das werde ich mal machen, jawohl!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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