Demokratie

Europa hat die Wahl!

Blick von oben ins EU-Parlament
Das Europäische Parlament hat so viele Kompetenzen wie noch nie, aber die Wähler sind trotzdem müde von der EU. © dpa / Patrick Seeger
Von Peter Lange · 24.05.2014
Nur mit einem starken Europäischen Parlament lassen sich nationale Egoismen überwinden, sagt Peter Lange, Chefredakteur vom Deutschlandradio Kultur. Er bedauert, dass die EU als Blitzableiter für Frustrationen genutzt wird und ermuntert die Bürger, sich an der Wahl an diesem Sonntag zu beteiligen.
Es ist schon paradox. Da hat das Europäische Parlament so viele Kompetenzen wie noch nie in seiner Geschichte. Aber seine Wähler sind so europamüde wie noch nie. Die EU, die doch bloß immer der kleinste gemeinsame Nenner ist, der übrig bleibt, wenn sich 28 nationale Regierungen zusammensetzen, diese EU ist zur Projektionsfläche und zum Blitzableiter für Frustrationen jeder Art geworden. Und das Europäische Parlament muss es womöglich ausbaden – mit einer niedrigen Wahlbeteiligung und damit verbunden mit einer überproportionalen Vertretung von Gruppen, die zurück wollen in den alten Nationalstaat.
EU übertreibt es mit ihrer Regelungsdichte
Die Europäische Union ist weit davon entfernt, perfekt zu sein. Sie übertreibt es mit ihrer Regelungsdichte. Sie ist geplagt von nationalen Egoismen und intransparentem Lobbyismus. Dass es noch immer keine organisierte Arbeitsmigration gibt, dass deswegen an der EU-Südgrenze jedes Jahr Tausende Menschen ertrinken, die den Weg übers Meer nicht schaffen, ist ein Skandal. Dass in den Südländern eine junge Generation ohne berufliche Perspektive aufwächst, ist eine Schande.
Und trotzdem: Was diese Europäische Union mit all ihren Unzulänglichkeiten und Widersprüchen wert ist, lässt sich nur ermessen, wenn der Blick in die Nachbarschaft geht: Der mit vielen Hoffnungen und revolutionärem Aufbruch gestartete Arabische Frühling ist mindestens versandet, wenn nicht sogar in Anarchie untergegangen. Der Nahe Osten mit dem kaum noch beschreibbaren Bürgerkrieg in Syrien ist von Frieden und Sicherheit weiter entfernt denn je. Kongo, Nigeria, Mali – alles Synonyme für afrikanische Krisenherde, bei denen Besserung nicht in Sicht ist. Und dann die ganzen Formal- und Pseudodemokratien – angefangen bei Rußland und seinen südlichen Anrainern bis hin nach Südasien, in denen es außer mehr oder weniger freien Wahlen an demokratischer Substanz kaum etwas gibt. Die Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen. In Europa selbst drohen 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg die alten nationalistischen Dämonen wiederzukehren. Wie anders lassen sie sich bannen als in dem politischen System der EU, in dem organisiert ist, dass einer auf den anderen achtet.
Vieles erinnert an Deutschland, wie es einst mal war
Das alles funktioniert nur mit einem starken Europäischen Parlament. Es ist die einzige Institution, die das Potential hat, ein europäisches Bewusstsein herauszubilden und nationale Egoismen zu überwinden. Nur das Parlament kann gegenhalten, wenn Regierungen der Versuchung erliegen, die nationale oder gar nationalistische Karte zu spielen, um ihre selbst verursachten Probleme auf Kosten anderer zu lösen.
Natürlich ist diese Europäische Union trotz Verfassung noch nicht so demokratisch, wie sie sein müsste. Aber der Prozess der Parlamentarisierung ist unaufhaltsam und irreversibel. Zäh, wie es vorangeht, erinnert es an die Zeiten des Deutschen Bundes, als den Herrschenden in den Einzelstaaten Verfassungen und Mitwirkungsrechte abgetrotzt wurden. Auch damals war das Geld der entscheidende Motor: Wer Steuern zahlte, wollte mitbestimmen, wie hoch sie sein und wofür sie ausgegeben werden sollten.
Die meisten Deutschen erinnern sich nicht an ein Leben ohne EU
Die Mehrheit der heute wahlberechtigten Deutschen kann sich an ein Leben ohne die Europäische Union nicht erinnern. Die EU hat in Deutschland das Glück und das Pech, dass sie als eine alltägliche Realität erfahren wird, die so selbstverständlich ist wie das warme Wasser, das aus dem Wasserhahn kommt. Die europäische Einigung ist nach 1945 auf einem zerstörten Kontinent von Politikern organisiert worden, um die Wirtschaft in Gang zu bringen. Sie ist nicht von den Bürgern erkämpft worden. Deswegen gibt es keinen kraftvollen Impuls, sie zu verteidigen. Aber sie ist es wert, verteidigt zu werden. Und bei dieser Europawahl ist es auch nötig.
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