Demografie-Experte Reiner Klingholz

Bildungsgefälle schürt weltweit Konflikte

Ausgebrannter Prüfungsraum einer staatlichen Schule in der Stadt Chibok im Nordosten Nigerias
Ausgebrannter Prüfungsraum einer staatlichen Schule im Nordosten Nigerias: Die islamistische Terrormiliz Boko Haram ist an Bildung nicht interessiert. © dpa / picture alliance / Henry Ikechukwu
Reiner Klingholz im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 01.07.2016
Ohne Wissen, Bildung und Technologie sind Herausforderungen wie der Klimawandel oder das Bevölkerungswachstum nicht zu bewältigen, so Reiner Klingholz. Dabei gehe es um Leben und Tod. Daher fordert der Demografie-Experte globale Bildungsinvestitionen.
Eine der Thesen auf dem aktuellen Kongress EduAction - ein Gipfel zu Bildungsfragen, unterstützt von der zuständigen Bundesministerin Johanna Wanka -, lautet: Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit. Reiner Klingholz, der Leiter des Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, formuliert es ebenso dramatisch. Bei Herausforderungen wie dem Klimawandel, Bevölkerungswachstum und steigenden Konflikten gehe es "schlicht und einfach um Leben und Tod". Der Demografie-Experte spricht von einem "Kampf der Bildungskulturen".

Konflikte aufgrund von Bildungsrückstand

"Andere Gebiete der Welt haben an dieser Bildungsrevolution nicht teilhaben können und die sind heute deutlich ärmer, die haben Rückstand. Und aus diesem Rückstand sind Konflikte entstanden, die jetzt aufgeladen sind mit Ideologie und mit Religion. Wobei der Hintergrund zwischen dem Konflikt derjenigen, die sich weiterentwickelt haben, und derjenigen, die abgehängt sind und zurückgeblieben sind, der Hintergrund ist tatsächlich ein Bildungsunterschied."
Deshalb gehe es darum, global in Bildung zu investieren.
"Wir investieren weltweit nur etwa zwei Prozent der Entwicklungsgelder in Basisbildung. Das ist schlicht und einfach zu wenig, und solange dort nicht mehr passiert … Und zwar Basisbildung heißt mindestens zehn Jahre Schule für alle, damit die Menschen ihr Leben organisieren können, damit sie ihre Zukunft, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können, und das fehlt vielerorts."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen sind Orte, an denen heute und morgen der Kongress EduAction läuft, ein Gipfel zu Bildungsfragen, unterstützt von der zuständigen Bundesministerin Johanna Wanka, mit eigentlich allen namhaften Experten in diesem Feld, die es hierzulande gibt, mit vielen spannenden Themen und Thesen. Und eine wollen wir jetzt aufnehmen und diskutieren: Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit. Diskutieren wollen wir das mit Reiner Klingholz, dem Leiter des Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, guten Morgen!
Reiner Klingholz: Guten Morgen!
Frenzel: Bildung ist eine Frage des Überlebens, sagen Sie. Warum so dramatisch?
Klingholz: Wir stehen am Anfang des 21. Jahrhunderts vor enormen Herausforderungen weltweit. Wir müssen den Klimawandel bewältigen, wir müssen für eine wachsende Weltbevölkerung die Nahrung bereitstellen, die Trinkwasserreserven gehen vielerorts zu Ende und wir haben es mit einer steigenden Zahl von Konflikten zu tun. Ohne Wissen, ohne Bildung, ohne Technologie sind diese Probleme schlicht und einfach nicht lösbar, und wenn sie nicht lösbar sind, bedeutet es, dass bestimmte Menschen verhungern, dass sie auf die Flucht geraten, dass sie unter dem Klimaschaden leiden. Es geht also schlicht und einfach um Leben und Tod.
Frenzel: Das sind sehr praktische Fragen, wo man denkt, da können wir, wenn wir wollen, politisch alle an einem Strang ziehen. Aber Sie konstatieren einen Kampf der Bildungskulturen in diesem Zusammenhang auch noch. Was meint das?

Bildungsunterschied als Hintergrund der Konflikte

Klingholz: Das, was wir heute so als westlich, als erfolgreiche Welt bezeichnen, beruht auf einer Bildung der Massen. Früher, vor mehr als im Mittelalter noch, waren Eliten gebildet und die anderen waren Bauern und Soldaten und Sklaven. Mit der Verbreitung der Bildung auf breite Bevölkerungskreise hat der Fortschritt begonnen, hat die industrielle Revolution begonnen, hat die Aufklärung begonnen. Das ist dann später auch nach Asien geraten, Japan, China, Korea, und diese Länder haben in Sachen Wohlstand, in Sachen Fortschritt Großes geleistet. Andere Gebiete der Welt haben das nicht, an dieser Bildungsrevolution nicht teilhaben können und die sind heute deutlich ärmer, die haben Rückstand. Und aus diesem Rückstand sind Konflikte entstanden, die jetzt aufgeladen sind mit Ideologie und mit Religion. Wobei der Hintergrund zwischen dem Konflikt derjenigen, die sich weiterentwickelt haben, und derjenigen, die abgehängt sind und zurückgeblieben sind, der Hintergrund ist tatsächlich ein Bildungsunterschied.
Frenzel: Sie denken an die arabische Welt vor allem?
Klingholz: Ich denke vor allem an die arabische Welt und an Afrika und an Westasien, Pakistan, Afghanistan.
Frenzel: Aber wenn wir uns mal exemplarische arabische Länder anschauen, im Maghreb, Tunesien zum Beispiel, da hatten wir ja die Situation, dass diese Aufstände auch kamen, weil es ganz viele gut ausgebildete junge Menschen gab, aber eben keine Arbeit. Also, ist Bildung da immer alles?
Klingholz: Also, so viel gut ausgebildete Menschen gibt es dort nicht, wenn man sich die Bildungsdaten anschaut. Aber es ist wahr, in den letzten zehn, 15 Jahren hat die Bildung dort auch Fortschritte gemacht. Was aber nicht gleichzeitig mitgekommen ist, ist die Zahl der Jobs für diese Menschen. Also, neben der Bildung ist natürlich auch wichtig, dass unternehmerische Freiheiten entstehen, damit die Menschen mit Ideen Unternehmen gründen können und damit für sich Einkommen schaffen und für andere Arbeitsplätze schaffen. Das ist in der arabischen Welt, haben wir ja gerade untersucht auch, ein großes Problem, weil sich der Staat dort sehr in die Unternehmerlandschaft einmischt, weil Unternehmertum keinen wirklich guten Ruf hat und weil die bürokratischen Hürden sehr, sehr groß sind. Und das bedeutet, dass dann zum Teil auch qualifizierte Leute auf der Straße bleiben, die natürlich ein höheres Frustrationspotenzial haben und die für diese Unruhen, die wir dort erleben, tatsächlich das Futter sind.
Frenzel: Sie fordern nun, dass wir global in Bildung investieren. Wie können wir das machen, ohne dass es eine Gießkanne wird, die letztendlich alles ein bisschen nass macht, aber nichts richtig voranbringt?

Einige Länder an Bildung gar nicht interessiert

Klingholz: Wir wissen, einige Länder wollen nicht wirklich in Bildung investieren. Dort haben wir Autokraten an der Macht, die an der Befähigung der Massen kein wirkliches Interesse haben. Das hatten wir im Mittelalter bei uns in Europa auch. Wir haben bestimmte Länder oder Regionen, wo radikale Kräfte Bildung regelrecht bekämpfen. Also, der IS, Boko Haram sind an moderner Bildung nicht interessiert, die schließen Mädchen vom Unterricht aus und so weiter und so fort, das sind die typischen Machokulturen.
Und dann haben wir Länder, die haben schlicht und einfach nicht die Mittel. Die armen Länder mit einem starken Bevölkerungswachstum haben nicht das Geld, was du brauchst, um die Schulen zu bauen, um die Lehrer auszubilden. Und dann haben wir insgesamt die Situation, dass wir weltweit nur etwa zwei Prozent der Entwicklungsgelder in Basisbildung investieren. Das ist schlicht und einfach zu wenig, und solange dort nicht mehr passiert … Und zwar Basisbildung heißt mindestens zehn Jahre Schule für alle, damit die Menschen ihr Leben organisieren können, damit sie ihre Zukunft, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können, und das fehlt vielerorts.
Frenzel: Aber ich verstehe Sie schon richtig, dass eigentlich bei uns im Grunde mit der Massenbildung, die Sie beschrieben haben, alles richtig läuft, dass wir uns eher auf die anderen Weltregionen konzentrieren müssen? Oder ist auch das, was wir hier tun, nicht unbedingt in allem Vorbild?
Klingholz: Also, im Vergleich zu den problematischen Weltregionen machen wir viel sehr gut. Aber bei uns haben wir immer noch die Situation, dass gerade sozial Schwache im Bildungssystem hinten an bleiben. Das wird, wenn Sie ein Elternhaus haben, wo Bildung keine große Rolle gespielt hat, ist es in Deutschland so, dass Sie als Kind mit großer Wahrscheinlichkeit in das gleiche Schicksal hineinlaufen. Das können Bildungssysteme in anderen Ländern, in Finnland, in den skandinavischen Ländern besser. Dort werden Kinder aller Schichten doch relativ gut mitgenommen, damit sie mit dem, was sie kraft ihres Gehirns leisten können, diese Leistung dann auch erbringen können.

Wer setzt die Maßstäbe in Sachen Wertegrundlage?

Frenzel: Ich würde noch mal gerne auf diese Frage des Bildungskulturkampfes kommen, den Sie da angesprochen haben, oder den Kampf der Bildungskulturen. Da gibt es einerseits die Verweigerer, das haben Sie beschrieben, Boko Haram und andere Despoten in dieser Welt. Aber gibt es auch möglicherweise das Problem, dass wir nicht immer, selbst bei denen, die Bildung wollen, die gemeinsame Wertegrundlage haben, was Bildung sein soll? Wer setzt da die Maßstäbe?
Klingholz: Die Maßstäbe sind in der Form simpel, dass Bildung erst mal heißt Lesen, Schreiben, Rechnen, möglicherweise Fremdsprachen, um sich in der Welt des 21. Jahrhunderts zurechtzufinden. Anderenfalls gelingt es nicht, den Anschluss zu finden. Wenn ich jetzt sage, die Kinder sollen nur in eine Koranschule und dort lernen, was in dieser heiligen Schrift steht, dann sind sie schlicht und einfach in dieser Welt des 21. Jahrhunderts chancenlos. Und dann kann man sagen, das ist natürlich eine westliche Sichtweise, aber ich glaube, es ist eine realistische Sichtweise. Denn Sie wissen, in allen Weltregionen, ob das Asien, Lateinamerika oder auch afrikanische Länder sind, ist diese Basisbildung – Rechnen, Lesen, Schreiben –, um die Welt in ihrer ganzen Form, in ihrer Komplexität begreifen zu können, die Grundlage dafür, dass man da noch was aufbaut.
Frenzel: Der Bildungsgipfel an Rhein und Neckar, der heute beginnt, Anlass für mein Gespräch mit dem Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Reiner Klingholz, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Klingholz: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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