David Levithan: "Two Boys Kissing"

Von Verfolgung zum Weltrekord

Zwei Männer küssen sich.
Zwei Männer küssen sich. © picture alliance / dpa
Von Sylvia Schwab · 01.12.2015
Der amerikanische Jugendbuchautor David Levithan verarbeitet in "Two Boys Kissing" den realen Guinness-Weltrekord-Kuss zweier College-Studenten 2010 zu einer bewegenden Geschichte. Er erzählt auf ungewöhnliche Art auch vom Schicksal Homosexueller in früheren Zeiten - von Verfolgung, Ausgrenzung und Aids.
Dieser Roman basiert auf einem authentischen Ereignis: Im Jahr 2010 brachen zwei amerikanische College-Studenten den Guinness-Weltrekord für den längsten Dauerkuss. Was Levithan aus diesem Sujet macht, ist eine dramatische und mitreißende Geschichte nicht nur eines schwulen Paares, sondern aller Homosexuellen, für die die beiden Jungen stehen.
Craig und Harry wollen ein Zeichen setzen für alle Schwulen. Ihr über 32 Stunden langer Kuss wird zum Kampf gegen den eigenen Körper, zum Symbol für Freiheit und – im Livestream übertragen - zum internationalen Event. Andere schwule Jungs scharen sich um sie: Tariq, der krankenhausreif geprügelt wurde, Cooper, der sich das Leben nehmen will, Ryan und Avery, die gerade frisch verliebt sind und Neil und Peter, deren Beziehung schon in Gewohnheit erstarrt. Von der Liebe in allen ihren Stadien und Facetten erzählt "Two Boys Kissing" und von jungen Männern, deren Gefühle immer noch nicht als selbstverständlich gelten.
Erzähler, oder besser: Beobachter dieser Ereignisse sind - und hier geht Levithan von Anfang an ein hohes erzählerisches Risiko ein – alle toten Homosexuellen. Die "Schattenonkel" und "Engelpaten" aller schwulen Jungen, ob im Buch oder in der Wirklichkeit. Sie erheben ihre Stimmen im Chor und führen uns nicht nur durch die Geschichten von Craig und Harry, Neil und Peter. Sie erzählen auch von der Verfolgung Homosexueller in früheren Jahrhunderten, von Ausgrenzung, Verachtung und Leid, von Krankheit, Aids und millionenfachem Tod. Wie ein Basso continuo berichten und kommentieren, fragen und raten die Stimmen der toten Geister. Als allwissendes Wir begleiten und steuern sie die Geschichte.
Bezaubernde Weisheit und Schönheit der Sprache
Das ist anfangs ziemlich nervig! Die dauernde Einmischung von oben herunter wirkt gönnerhaft bis verschwörerisch. Statt dem Leser das Nachdenken und die Interpretation des Geschehens zu überlassen, geben die Toten Hinweise und Erklärungen. Doch je länger wir ihren Stimmen lauschen, desto überzeugender wirkt ihr Auftritt. Nicht nur, weil sie dem nur zwei Tage währenden Geschehen des Romans eine weitere Dimension hinzufügen: die räumliche und zeitliche Tiefe der Erfahrungen vieler Generationen von Homosexuellen. Sie bezaubern uns auch mit ihrer Weisheit, ihrer Geduld, ihrer Liebe und vor allem mit der Schönheit ihrer Sprache. So kraftvoll und wuchtig können eben nur alte Menschen schreiben. (Es sei denn, sie seien Schriftsteller wie David Levithan.)
Es gibt Sätze in diesem packenden Roman, die muss man sich einfach aufschreiben: "Zweifel ist ein akzeptables Risiko für das Glück" oder "Aufrichtigkeit ist ein Geschenk, das sich entfalten muss". Sie ragen wie Leuchttürme heraus aus dem Erzählten, sie sind wahr und poetisch zugleich und entschädigen für einzelne zu pathetische Abschnitte. "Man kann Worte schenken, aber nicht wegnehmen" flüstern die Stimmen aus dem Off einmal. David Levithan hat eine bewegende Geschichte auf sehr ungewöhnliche Weise erzählt – wie schön, dass man sie uns nicht mehr wegnehmen kann!!

David Levithan: Two Boys kissing. Jede Sekunde zählt.
Aus dem Amerikanischen von Martina Tichy
Fischer Verlag, Frankfurt 2015
284 Seiten, 14,99 Euro, ab 14 Jahren

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