"Das Problem sind nicht die Staatsschulden"

Heiner Flassbeck im Gespräch mit Marcus Pindur · 01.12.2011
Der Chefvolkswirt der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD), Heiner Flassbeck, sieht im Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit das Hauptproblem bei der Finanzkrise in Europa. Der Rettungsversuch der Zentralbanken sei eine "absolute Notmaßnahme".
Marcus Pindur: Ich begrüße jetzt Heiner Flassbeck, Chef-Volkswirt der UNO-Organisation für Handel und Entwicklung UNCTAD. Guten Morgen, Herr Flassbeck!

Heiner Flassbeck: Guten Morgen!

Pindur: Die Zentralbanken wollen mehr Geld zur Verfügung stellen, indem sie sich unbegrenzt in den jeweils anderen Währungen Geld leihen wollen. Die Aktienmärkte reagierten darauf schon euphorisch. Ist das ihrer Ansicht nach mehr als ein Strohfeuer?

Flassbeck: Ja, das ist ja nur eine Notmaßnahme, und man ist schon erstaunt, dass die Aktienmärkte auf eine absolute Notmaßnahme euphorisch reagieren. Das zeigt schon ziemliche Verzweiflung an diesen Märkten. Also es ist eine Notmaßnahme, weil – es wurde schon gesagt – die Banken sich untereinander nicht mehr genügend Geld leihen, und deswegen die Notenbanken sozusagen eintreten als Verleiher zwischen den Banken. Das ist ein Zeichen davon, dass die Banken sich selbst nicht mehr trauen, und das bedeutet, dass die Bankbilanzen immer noch in einem sehr schlechten Zustand sind.

Pindur: Wir hatten ja 2009 schon mal die Befürchtung, dass es zu einer Kreditklemme kommen könnte. Da hat man das aber vermeiden können. Wie groß ist denn jetzt das Problem?

Flassbeck: Na ja, die Kreditklemme ist ja erst der nächste Schritt sozusagen. Wenn die Banken jetzt nicht mehr genug Kredite an Unternehmen geben würden, aber das ist, glaube ich, im Moment nicht der Engpass. Zumindest in Deutschland sind die Gewinne der Unternehmen unheimlich hoch, da gibt es gar keine Kreditklemme, und in Europa gehen wir überall in Rezession, also Kreditklemme ist jetzt eigentlich nicht so das Thema. Das Thema ist: Wie gesund sind diese Banken, und was kann man diesen Banken noch zumuten? Und man sieht jetzt, was man hätte vor drei Monaten schon wissen können, dass dieses ganze Gerede über Schuldenschnitte der Staaten und dann Bankenbeteiligung, dass das weit hergeholt bis völlig daneben war.

Pindur: Bleiben wir mal bei der Rolle der Zentralbanken. Sollten die Staatsanleihen gefährdeter Eurostaaten in großem Stil aufkaufen, das, was man im angelsächsischen Raum die sogenannte Bazooka nennt?

Flassbeck: Na ja, das ist immer eine Maßnahme, die eben sozusagen im Instrumentenkasten verfügbar sein muss, und dass Deutschland die blockiert, ist durch nichts zu rechtfertigen. Natürlich muss die Zentralbank in der Lage sein, an diesen Märkten massiv einzugreifen. Wir haben es bei der Schweizer Zentralbank ja gesehen, die hat vor einigen Monaten am Währungsmarkt massiv eingegriffen, hat eine Untergrenze oder Obergrenze für den Schweizer Franken gesetzt und hat das durchgehalten bis jetzt ohne jedes Problem. Und bei den Zentralbanken ist eben wichtig, dass sie mit Gewalt eingreifen und dann auch wirklich mit Überzeugungskraft sagen: Bis hierhin und nicht weiter. Und das wird durch dieses europäische Getendel der Politik, und vor allem auch durch Deutschland mit seiner extrem zögerlichen Haltung wird das verhindert. Aber machen wir uns nichts vor: Das ist auch nur eine Überbrückungsmaßnahme. Die Europäische Zentralbank kann das ja nicht für 20 Jahre tun, die kann das mal für ein, zwei Jahre tun, aber man muss das eigentliche Problem angehen, und das wird immer noch nicht angegangen, nämlich das Problem der auseinanderlaufenden Wettbewerbsfähigkeit in der Europäischen Währungsunion, wo Deutschland heftig dran beteiligt ist.

Pindur: Deutschland ist nun mal konkurrenzfähig, warum soll Deutschland denn auch noch dann für die Schulden der anderen aufkommen, die über ihre Verhältnisse gelebt haben?

Flassbeck: Entschuldigung, weil die Konkurrenzfähigkeit und die Schulden unmittelbar zusammenhängen. Das ist ja nicht voneinander losgelöst. Und wenn einer konkurrenzfähig ist und den anderen vom Markt verdrängt, dann erleben wir, dass die Menschen in diesen Ländern sich verschulden, um die Güter des Konkurrenzfähigen zu kaufen. Aber machen wir uns nichts vor: Deutschland hat seine Konkurrenzfähigkeit nicht durch hohe Produktivität oder sonst was erzielt, sondern durch massiven Druck auf die Löhne, und das war ein klarer Verstoß gegen das Inflationsziel, das wir uns in Europa gesetzt hatten. In der Europäischen Währungsunion gab es ja ein Inflationsziel von zwei Prozent. Dagegen hat Deutschland völlig klar verstoßen, und da kann man jetzt nicht sagen: Die anderen waren schuld. Frankreich etwa hat das Inflationsziel mit den Löhnen und der Produktivität perfekt eingehalten. Die anderen Südeuropäer waren drüber, Deutschland war drunter, also muss man sich sagen: Wir müssen uns jetzt anpassen, wir müssen es zusammenkriegen wieder. Nur dann ist alles andere überzeugend, verstehen Sie? Der Punkt ist: Wenn ich keine Strategie habe, dieses zentrale Problem zu lösen, dann kann ich mit den kurzfristigen Maßnahmen nichts erreichen, auch Eurobonds werden da keine Lösung sein.

Pindur: Wenn das zentrale Problem das ist, aber im Moment sieht es ja so aus, dass einfach die Verschuldungssituation der Euro-Staaten eben das Problem darstellt und einfach die Märkte nicht mehr glauben, dass diese Schulden bedient werden können. Muss man nicht tatsächlich so, wie Bundesfinanzminister Schäuble sagt, dann dem Problem dermaßen auf den Grund gehen, dass man sagt, okay, wir müssen die Verträge ändern und striktere Regeln einfach dafür entwerfen?

Flassbeck: Nein, das halte ich für fundamental falsch, weil das Problem sind nicht die Staatsschulden. Spaniens Staatsschulden sind niedriger als die deutschen. Trotzdem haben sie einen irren Zinsaufschlag. Japan hat Schulden, die sind doppelt so hoch wie Griechenlands fast, und haben den niedrigsten Zins der Welt. Das ist einfach falsch, diese Diagnose ist schon falsch, dass es die Staatsschulden als solches sind. Nein, es ist die Gesamtverschuldung der Länder, und die hat mit dem Außenhandel zu tun und sonst nichts. Und daran hapert das Ganze, dass wir immer an dem falschen Punkt operieren, sozusagen. Und wir operieren noch an einem Punkt, wo man niemals Erfolg haben kann. Denn wenn Herr Schäuble sagt, alle müssen jetzt sparen, mitten in der größten Rezession, die Europa wahrscheinlich jemals erleben wird, dann funktioniert es einfach nicht. Es geht nicht. Man muss zur Kenntnis nehmen, ein Staat kann nicht wie ein privater Haushalt sparen. Warum? Weil seine Einnahmen nicht gegeben sind. Seine Einnahmen fallen auch, wenn er anfängt zu sparen. Wenn er seine Ausgaben kürzt, fallen seine Einnahmen, und dann kann man die Defizite nicht einfach zurückfahren, und dann kann man nicht sagen: Wir machen die schwäbische Hausfrau, und dann ist Europa saniert. Das funktioniert niemals.

Pindur: Zum Schluss kommen wir auf das konkrete Beispiel Italien noch mal ganz kurz zurück: Wie schätzen Sie die Chance ein, dass Italien da unbeschadet rauskommt?

Flassbeck: Sie sind ja schon nicht unbeschadet. Die haben jetzt einen Zins von sieben Prozent, sie bräuchten also ein Wachstum, ein nominales Wachstum von über sieben Prozent, um ihre Verschuldung zu reduzieren. Das ist im Moment vollkommen ausgeschlossen, im Gegenteil: Wenn sie jetzt sparen, wird das Wachstum noch niedriger werden, insofern ist die Situation schon unlösbar. Deswegen muss man wirklich an die Ursache ran, an den Kern der Probleme – und das sind nicht die Staatsschulden –, und dann dort eine Strategie vorlegen, wie man den Unterschied in der Wettbewerbsfähigkeit abbaut. Und dann kann man dazu übergehen, den Ländern, die jetzt zu hohe Zinsen haben, über die Zentralbank oder über Eurobonds temporär – was heißt temporär, heißt so fünf bis zehn Jahre, bis das Problem gelöst ist – zu helfen. Das ist eine Strategie.

Pindur: Herr Flassbeck, wir nähern uns den Nachrichten, haben Sie recht herzlichen Dank für das Gespräch!

Flassbeck: Bitte!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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