Das Leben als langwierige politische Ernüchterung

28.09.2007
Zum 70. Geburtstag des deutschsprachige Erzählers und Drehbuchautors Jurek Becker (1937-1997) ist jetzt ein Band mit Aufsätzen, Vorträgen und Interviews erschienen. "Mein Vater, die Deutschen und ich" umfasst bemerkenswerte Einsichten zur deutsch-deutschen Politik und Literatur, und er bringt dem Leser den vielschichtigen Lebenslauf des Autors auf unangestrengte Art näher.
Warum Jurek Becker nach Ende des Zweiten Weltkriegs ausgerechnet in Berlin, genauer gesagt im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg heimisch werden sollte, hat er nicht nur sich selbst gefragt. Becker, der seinen - möglicherweise falschen - Papieren zufolge 1937 in Lodsch geboren wurde, der das Lodscher Ghetto überlebte, der bis zu seinem achten Lebensjahr polnisch und kaum ein Wort deutsch sprach, richtete diese Frage auch immer wieder an seinen Vater.

Einmal habe ihm der Vater geantwortet: "Schließlich sind es ja nicht die polnischen Antisemiten, die den Krieg verloren haben." Sein Vater sei, erklärt Jurek Becker, in Deutschland geblieben, weil er geglaubt habe, dass die Diskriminierung von Juden gerade an dem Ort, an dem sie ihre schrecklichsten Formen angenommen hatte, am gründlichsten beseitigt werden würde. Bis zu seinem Tode 1972 wäre sein Vater davon überzeugt gewesen, sich nicht geirrt zu haben.

Der deutschsprachige Erzähler und Drehbuchautor Jurek Becker, der die DDR 1977 verließ und 1997 in Schleswig-Holstein starb, war von den Ansichten seines Vaters, wie er bekennt, geprägt, auch fasziniert. Er war aber im Laufe der Zeit, wie es scheint, immer weniger von ihnen überzeugt.

Unter dem Titel "Mein Vater, die Deutschen und ich" hat der Suhrkamp Verlag zum 70. Geburtstag von Jurek Becker einen Band mit Aufsätzen, Vorträgen und Interviews vorgelegt. Er umfasst bemerkenswerte Einsichten zur deutsch-deutschen Politik und Literatur, und er bringt dem Leser den vielschichtigen Lebenslauf des Autors auf unangestrengte Art näher.

In rund vierzig Texten, entstanden zwischen 1974 und 1997, erscheint Beckers Leben vor allem als eine langwierige politische Ernüchterung. Man erlebt den Kämpfer, der im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung beherzt für die Menschenrechte in der DDR eintritt. Seinen eigenen sozialistischen Idealen schwört er dabei nicht ab.

Zugleich steckt er voller Skepsis gegenüber einer politischen Determinierung der Kunst. Der besonderen, politischen Bedeutung, die man den DDR-Literaten, egal ob Dissidenten oder Apologeten des Regimes, innerhalb und außerhalb des Landes zuschreibt, begegnet er mit Misstrauen. Gleichwohl erinnern ihn die freien Schriftsteller des Westens an Handelsvertreter, die mit ihrer Ware um ein paar Sekunden Aufmerksamkeit buhlen müssen. Der Tonfall solcher Vertreter sei auch der Tonfall der wiedervereinigten deutschen Literatur - lautet Beckers Urteil.

Von seinen eigenen Büchern erfährt man wenig, mit Ausnahme von "Jakob dem Lügner". Beckers erster und international bekanntester Roman, die 1969 in der DDR erschienene Geschichte von einem Mann im Ghetto, der seine Schicksalsgefährten mit Lügen über die nahe Befreiung, erfundenen Meldungen aus einem nicht existierenden Radio, am Leben hält, nimmt auch in der Biographie des Autors eine Sonderstellung ein.

Die Veröffentlichung sei ein Unglück gewesen, weil sein Vater daraufhin lange nicht mehr mit ihm gesprochen habe - abgesehen von einem empörten Kommentar: "Die blöden Deutschen kannst du belügen über die Zustände im Ghetto, aber nicht mich. Ich bin dabei gewesen."


Rezensiert von Martin Sander


Jurek Becker: Mein Vater, die Deutschen und ich. Aufsätze, Vorträge, Interviews
Herausgegeben von Christine Becker.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 320 Seiten, 19,80 Euro