Das heimliche Spiel

Rezensiert von Maike Albath · 07.03.2005
Bedrückende Familienverhältnisse, unerfüllte Leidenschaften, Tod und Verlust bestimmen die Erzählungen von Elsa Morante. Ihre Helden sind den schicksalhaften Verstrickungen schutzlos ausgeliefert: sie besitzen keine Entscheidungsfreiheit, sondern ihr Leben widerfährt ihnen.
Es herrscht eine zeitenthobene Atmosphäre; viele der Geschichten spielen in einer nicht näher benannten Vergangenheit. Die Trennlinie zwischen realen Begebenheiten und Phantasien ist dabei häufig aufgehoben - mitunter gleitet man in bizarre Traumbilder hinein, ohne zu wissen, ob sie nur vorgestellt sind oder Teil der Wirklichkeit. Dieses Misstrauen der faktischen Welt gegenüber geht von den Protagonisten aus. So zweifelt die Ich-Erzählerin von "Der sizilianische Soldat" an der Begegnung mit einem Partisanen, der eines Nachts bei ihr Unterschlupf sucht und ihr sein Leben erzählt. Weil er sich an dem Selbstmord seiner Tochter schuldig fühlt, will er sich aus Kummer im Krieg töten lassen, um im Jenseits seine Tochter um Versöhnung zu bitten. Hat sich diese Begegnung wirklich zugetragen oder ist sie der überreizten Imagination der Erzählerin entsprungen, die sich auf einer gefährlichen Reise zwischen den Fronten in Richtung Rom befindet und große Sehnsucht nach Sizilien verspürte?

Elsa Morante lässt das bewusst in der Schwebe und verwebt Elemente des Märchens und der phantastischen Erzählung zu einer neuen Form. Die Titelgeschichte hat ein Spiel zum Gegenstand, dass sich die vernachlässigten Kinder einer adligen Familie ausdenken: in ihrer Einsamkeit erwecken sie insgeheim eine Ritterwelt zum Leben, schlüpfen in die erfundenen Figuren hinein und geben sich abenteuerlichen Kämpfen und Liebeshändeln hin. Als die missgünstige Mutter das Treiben der Kinder entdeckt, zerstört sie die Wurzel ihrer Vitalität. Eine weitere Erzählung berichtet von einer angsteinflößenden Schwiegermutter, die wie eine Hexe Prophezeiungen ausstößt, aus Eifersucht verschwindet und schließlich den Tod ihrer Enkelkinder verschuldet.

Was auf den ersten Blick wie ein Ensemble klassischer Fin-de-Siècle-Geschichten wirken mag - Kinderleichen, kleine Waisen, Kloster, Totenlichter, steinerne Engel gehören zu den typischen Beigaben - sind erste Entwürfe eines abgründigen fiktionalen Kosmos. Elsa Morante, 1912 in Rom geboren, verfasste einen Großteil der Erzählungen mit Anfang zwanzig. Dass sie damals bereits ihr Elternhaus verlassen hatte, sich mit Gesellschaftsreportagen für elegante Magazine über Wasser hielt und allein lebte, galt als Anfechtung der guten Sitten und war absolut unkonventionell. Neben den journalistischen Arbeiten entstanden erste literarische Texte, die sie später unter dem Titel Das heimliche Spiel (1941) heraus bringen sollte. Ergänzt durch die in den fünfziger Jahren geschriebenen Geschichten "Der sizilianische Soldat" und "Der andalusische Schal" legt der Wagenbach Verlag eine neue Zusammenstellung der frühen Erzählungen Morantes vor. Bestechend ist vor allem die Atmosphäre: wie aus einem dichten Nebel schälen sich die Ereignisse heraus, auch der Leser wird in die Rätselhaftigkeit des Daseins mit hinein gezogen und bewegt sich tastend durch die bedrohliche Umgebung. Die Stimmung des Ungefähren gerät in einen reizvollen Kontrast zu den prägnanten Beschreibungen der äußeren Erscheinungen. In einer sehr sinnlichen, bildhaften Sprache fängt Morante die Physiognomien ihrer Helden ein.

Innerhalb der italienischen Nachkriegsliteratur stellt Elsa Morante eine Ausnahmeerscheinung dar. Ihre Neigung zum realismo magico widersprach des ästhetischen Prinzipien des damals populären politisch korrekten Neorealismus. Umgekehrt machte sie mit ihrem breit angelegten Roman über den Zweiten Weltkrieg La storia (1973) alle Regeln vom Zerfall der Sprache und der Notwendigkeit formaler Experimente zunichte: sie landete den großen Publikumserfolg der frühen 70er Jahre, erreichte noch im Erscheinungsjahr eine Auflage von über 600.000 Exemplaren und entfachte mit ihrer epischen Erzählweise einen heftigen Disput. Man warf ihr vor, historische Umwälzungen aus einer unzulässig privaten Perspektive zu betrachten: Geschichte werde lediglich als böse Macht gekennzeichnet, was rational nachvollziehbare Erklärungen verhindere und die Beteiligten (also auch den Leser) von jeder Verantwortung für die Kriegsgräuel frei spreche.

Es sind Familienbindungen, die Elsa Morante Zeit ihres Lebens beschäftigten, oft verlagert in einen mythisch überhöhten Bereich. Nach ihren spektakulären Erfolgen mit den Romanen Lüge und Zauberei (1948) und Arturos Insel (1957), beide mit den wichtigsten italienischen Literaturpreisen ausgezeichnet, galt Morante als eine der einflussreichsten Schriftstellerinnen ihrer Generation. Ihre zwanzigjährige Ehe mit Alberto Moravia beförderte diese Rolle noch. Die literaturhistorische Bedeutung der 1985 gestorbenen Autorin hat man allerdings oft unterschätzt. Erst in den 90er Jahren revidierte die italienische Kritik ihre Bewertung von La storia. Der neue Erzählband Das heimliche Spiel liefert einen Eindruck von der schillernden Vielfalt Morantes.

Elsa Morante
Das heimliche Spiel
Erzählungen
Aus dem Italienischen von Susanne Hurni-Maehler
Neu durchgesehen von Maja Pflug
Verlag Klaus Wagenbach. 200 Seiten, 19,50 Euro