Das geistige Leben der Tiere

Von Sabine Salewski · 21.10.2010
Seit der Antike gibt es eine Definition des Menschen, die ihn als "animal rationale" beschreibt, als vernünftiges Tier. Doch diese Vorstellung wirft Probleme auf: Wie genau sind die animalischen und die vernünftigen Anteile im Menschen miteinander verknüpft? Wo hört das Tier auf, wo beginnt das Menschliche?
Wir können die Schreie von Fledermäusen nicht hören. Ihre Rufe im Ultraschallbereich sind für menschliche Ohren zu hoch. Erst wenn man sie mit einem Spezialmikrofon aufnimmt, tieferlegt und zehnfach verlangsamt, werden sie hörbar:

Fledermäuse nehmen ihre Umwelt mithilfe dieser Hochfrequenzschreie wahr. Sie registrieren das Echo ihrer Schreie, das von Bäumen, Insekten oder Hauswänden zurückgeworfen wird: Sie sehen mit den Ohren. Wohl kein Sinnesapparat unterscheidet sich so grundsätzlich von unseren eigenen Wahrnehmungsorganen wie die Echolotortung der Fledermaus: Fledermäuse sind nicht wie wir.

"Jeder, der einige Zeit in einem geschlossenen Raum mit einer aufgeregten Fledermaus verbracht hat, weiß auch ohne die Hilfe philosophischer Reflexion, was es heißt, einer grundsätzlich fremden Form von Leben zu begegnen."

Das schreibt der amerikanische Philosoph Thomas Nagel im Jahr 1974 in einem Aufsatz mit dem Titel: "Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?" Der Text wurde berühmt, nicht nur unter Philosophen. Er sollte eine gesamte neue Forschungsrichtung begründen.

"Ich möchte wissen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein."

Um diese Frage ging es Nagel. Damals lehrte er zusammen mit dem Biologen und Zoologen Donald Griffin an einer kleinen, elitären Forschungseinrichtung in New York, der Rockefeller University. Griffin war Fledermausforscher. Er war es, der 1938, noch als Student, die Echolokation von Fledermäusen entdeckt hatte. Nun ließ ihn Nagels Frage nicht mehr los: Wie nehmen andere Lebewesen die Welt wahr? Wie empfinden Sie? Was für eine Form von Bewusstsein haben sie? Und: Können wir etwas darüber in Erfahrung bringen? Diesen Fragen widmete Griffin von nun an seine gesamte Forschungstätigkeit.

Das Feld der "kognitiven Ethologie" war entstanden, der Verhaltensforschung, die das geistige und soziale Leben von Tieren und Menschen erforscht, und ihr Gründungsvater, das war Donald Griffin sagt Julia Fischer, Professorin für kognitive Ethologie an der Universität Göttingen.

"Seine Idee war, dass man eben den Tieren unbedingt ein geistiges Leben zusprechen sollte und er war US-Amerikaner und hat sich damit vor allem gegen die Behavioristen gestellt und die behavioristische Tradition, die ja immer gesagt hat, Tiere oder überhaupt mentales Leben ist eine schwarze Box, da kommen wir nie dran und er hat gesagt: doch, wir können durch Beobachtung und Experimente feststellen, dass die Tiere ein geistiges Leben haben."

Griffin, der Biologe, machte sich an die Erforschung des Geistes der Tiere, angetrieben von dem Aufsatz eines Philosophen: Schon die Entstehungsgeschichte der kognitiven Ethologie zeigt, in welchem Spannungsfeld diese junge Disziplin bis heute angesiedelt ist: Philosophie und Verhaltensforschung, Neurowissenschaften und Genetik haben sich hier zu einer neuen Gemeinschaft zusammengeschlossen.

"Die Philosophie steht am Anfang und am Ende und dazwischen arbeitet man eher wie ein Handwerker."

Seit fünf Jahren ist Julia Fischer Professorin am Deutschen Primaten Zentrum der Universität Göttingen. Mehrere Jahre hat die 42-Jährige in Afrika gelebt, um die Kommunikation von Pavianen zu erforschen.

In mühseliger Kleinarbeit sammelte sie empirische Hinweise für eine Frage, die fast so alt ist wie die Philosophie selbst: Können Tiere denken?
In Julia Fischers Arbeit spielen Playback-Experimente eine große Rolle. Sie folgt den Pavianen mit Mikrofon und Aufnahmegerät und spielt den Tieren die so eingefangenen Töne in anderen, experimentell sorgsam vorbereiteten Situationen wieder vor. Wie hier die Rufe des Pavianweibchens Leko, das den Kontakt zur Gruppe verloren hat:

Durch ihre Playback-Experimente findet Julia Fischer heraus, wie die Affen auf Rufe reagieren, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten und wie sie miteinander kommunizieren. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen seien aber auch ernüchternd, sagt Julia Fischer:

"Eine große Frage in diesem Bereich ist eben: Sprechen Tiere, oder insbesondere Affen. Haben die so etwas wie Sprache? Und das ist also zur Zeit zumindestens, glaube ich, doch so der Common Sense: Nein, die haben keine Sprache. Und dazu haben wir auch die Daten geliefert. Wir können zeigen, wo Gemeinsamkeiten sind in der Kommunikation zwischen Affen und Menschen, nämlich auf dieser Verständnisseite, also dass Affen auch in der Lage sind, hunderte von verschiedenen Geräuschen richtig zu interpretieren, zu benutzen, um was vorherzusagen, auch als Symbole zu verstehen. Aber was sie eben nicht haben, ist die Freiheit, bestimmte Laute zu äußern, und die arbiträr, willkürlich mit Bedeutung zu belegen. Das haben sie eben überhaupt nicht. Und das hat auch kein anderes Tier."

Tiere haben keine Sprache, auch nicht die uns so ähnlichen Menschenaffen. Was bedeutet das für ihre geistigen Fähigkeiten? Können Tiere auch ohne Sprache denken?

"Ist es Denken oder nicht? Das bleibt letztendlich der Philosophie vorbehalten, sich damit auseinanderzusetzen, ich kann dazu eigentlich die Antwort nicht liefern, weil das eine Interpretationsfrage ist."

Philosophie entsteht im Spannungsfeld sich widersprechender und scheinbar unauflösbarer Intuitionen. Der Schweizer Philosoph Markus Wild beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage nach dem geistigen Leben der Tiere.

"Tiere tun und können Dinge, die uns irgendwie ähnlich sind, und die wir bei uns dadurch erklären, dass wir Absichten haben oder Projekte oder Pläne, oder dass wir Zwecke verfolgen und dann uns fragen, ja warum sollte das bei denen nicht gleich sein, bzw. wir fragen uns gar nicht, sondern schreiben denen das spontan zu. Andererseits gibt es eine ganze Reihe von Verhaltensweisen bei Tieren, nicht nur bei niederen, sondern auch bei höheren, die uns irgendwie enorm gedankenlos und automatisch vorkommen. Eine Schildkröte, die versucht, über einen Stein zu kriechen, wenn es viel einfacher wäre, außen rum zu gehen. Und dann haben wir eher den Eindruck von kleinen, von irgendwelchen Trieben ferngesteuerten Wesen, die sehr wenig mit uns zu tun haben."

In der Geschichte der Philosophie sind die Antworten auf diesen Widerspruch so unterschiedlich ausgefallen wie nur denkbar.

""Wenn es Maschinen mit den Organen und der Gestalt eines Affen oder eines anderen vernunftlosen Tieres gäbe, so hätten wir gar kein Mittel, das uns nur den geringsten Unterschied erkennen ließe zwischen dem Mechanismus dieser Maschinen und dem Lebensprinzip dieser Tiere;" "

Das schreibt der Philosoph René Descartes im Jahr 1637.

Auf der anderen Seite finden wir Autoren wie Michel de Montaigne oder John Locke oder David Hume, die davon ausgehen, dass wir sehr viel mit Tieren gemeinsam haben, und dass der Unterschied wahrscheinlich nur gradueller Natur ist und kein wesentlicher Unterschied ist.

""Mir nun erscheint keine Wahrheit einleuchtender, als die, dass die Tiere ebensogut wie der Mensch denken und mit Vernunft begabt sind. Die Beweisgründe dafür liegen so klar am Tage, dass sie den Beschränktesten und Unwissendsten nicht entgehen können." "

Damit bezieht der britische Philosoph David Hume 1740 eindeutig Stellung gegen den Franzosen Descartes. Diese beiden entgegengesetzten Meinungen prägen die Tierphilosophie bis heute, sagt Markus Wild. Es ist der Streit zwischen Differentialisten und Assimilationisten.

"Mit Assimilationismus ist gemeint, dass man Tiere und Menschen in gewisser Weise sehr nahe zusammen bringt und unsere Fähigkeiten eher als eine sehr elaborierte Form eigentlich animalischer oder tierischer Fähigkeiten betrachtet. Also man arbeitet dann bottom up und baut so, wie ein Kuchen, verschiedene Fähigkeiten auf und dann kommt oben noch ein bisschen Vernunft und dann haben wir den Menschen fertig. Die Differentialisten finden, das führt nirgends hin, sondern wir müssen damit anfangen, was uns doch ganz offensichtlich von den unvernünftigen Tieren in Feld und Wald unterscheidet. Und das sind halt die Sprache und rationales Denken und dergleichen."

Auch Darwins Evolutionsbiologie kann diese Spannung nicht aufheben.

"Ich glaube nicht, wie man oft hört, dass sich dieser Gegensatz dann mit Darwin einfach erledigt hat. Also man kann nicht einfach sagen: Ja, wir teilen alle eine große Geschichte. Die Tatsache, dass wir eine Geschichte teilen, heißt nicht, dass die Wesen unter sich sehr verschieden sind, das ist eine der Pointen des Darwinismus, dass es genau diese Unterschiede halt gibt."

Auch nach Darwin ist der Schulenstreit in der Philosophie, wenn es um die Frage nach dem Geist der Tiere geht, nicht zur Ruhe gekommen. Besonders Vertreter des sogenannten "Linguistic Turns", der linguistischen Wende in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, sind davon überzeugt, dass unser Denken, unsere Wahrnehmung und unser Bewusstsein unauflöslich mit unseren sprachlichen Fähigkeiten verknüpft sind. Ohne Sprache kein Denken, und da sich die empirischen Beweise dafür häufen, dass kein Tier sprechen kann, hieße dies: Tiere können nicht denken.

Gegen diese Logik wendet sich eine rasch wachsende Gemeinschaft interdisziplinärer Forscher. Neurowissenschaftler, Biologen, kognitive Ethologen und Philosophen arbeiten an einem Gegenentwurf zu dem sprachzentrierten Modell unserer Kognition. Dazu sei es höchste Zeit, sagt die französische Philosophin Joelle Proust. Sie ist Forschungsdirektorin des Pariser Institut Jean-Nicod. An diesem im Jahr 2000 gegründeten Institut der Ecole Normale versuchen Forscher unterschiedlicher Disziplinen, den Geheimnissen des tierischen und menschlichen Geisteslebens auf die Spur zu kommen.

"Wir müssen verstehen, wie viel wir mit anderen Primaten und Säugetieren teilen. Nur so können wir verstehen, was an uns besonders ist. Und zum jetztigen Zeitpunkt können wir noch nicht messen, wie sehr wir den anderen Lebewesen ähneln, weil es immer noch sehr wenig Forschung dazu gibt. Deshalb denke ich, ist es viel wichtiger, die Kontinuitäten zu erforschen, statt das zu machen, was wir stets getan haben, nämlich darauf zu bestehen, dass wir einzigartig sind."

Philosophen wie Joelle Proust und Markus Wild versuchen deshalb, ein sprachunabhängiges Modell des Denkens zu entwickeln und zentrale Begriffe der Kognition, wie zum Beispiel Rationalität, von ihren linguistischen Verstrickungen zu befreien und für ein sprachloses Denken fruchtbar zu machen.

"In der Philosophie wird zur Zeit sehr daran gearbeitet, Rationalität zu erklären ohne Bezug auf sprachliche oder bewusste Verweise auf Normen der Rationalität. Damit will ich sagen, man muss nicht wissen, was Wahrheit ist, um wichtige Tatsachen in der Welt empfinden zu können. In diesem weiteren Sinne nennen wir "rational" etwas, das einem erlaubt, sich der Welt flexibel anzupassen, seine Ressourcen zu bewahren und best möglich auszuweiten unter den gegebenen Umständen."

Nach dieser Definition können auch niedere Tiere bereits eine Form von Rationalität haben. Sie sind vernünftig. Fische zum Beispiel, sagt Joelle Proust und beruft sich dabei auf Untersuchungen des schweizer Biologen Redouan Bshary. Bshary hat das Verhalten von Putzerlippfischen untersucht. Diese Fische fressen Parasiten von der Haut größerer Fische. Im Gegenzug erlauben die großen Fische den Putzerlippfischen, etwas von dem schützenden Schleimfilm ihrer Haut zu fressen.

"Das Interessante ist, dass es da einen Kompromiss gibt, wie viele Parasiten die Putzer fressen, je nachdem, ob es sich um einen neuen oder einen alten Klienten handelt. Bei einem neuen Klienten fressen sie viele Parasiten und lassen die Schleimhülle unangetastet, aber bei einem alten, wiederkehrendem Klienten, nicht; da machen sie es sich leicht, wie Menschen das auch tun. Das ist ein außergewöhnliches Beispiel für eine Art, Entscheidungen zu treffen, die rational ist und unserer genau entspricht. Das zeigt also, dass man keine Sprache braucht, um das zu tun."

Es sind empirische Untersuchungen wie diese, die für Joelle Prousts philosophische Überlegungen die entscheidende Grundlage liefern. Sich in den Sessel des Philosophens zurückzulehnen und durch reines Denken den Geist der Tiere erfassen zu wollen - für Joelle Proust ein Ding der Unmöglichkeit.

"Es gibt keine strikte Trennung zwischen rein begrifflichen Wahrheiten und empirischen Wahrheiten. Jede empirische Aussage hängt teilweise von Begriffen ab und umgekehrt, Begriffe hängen auch von Evidenzen ab. Philosophie muss um diese Vorstellung herum neu aufgebaut werden. Sonst ist sie völlig losgelöst von den eigentlichen Wissenschaften und den eigentlichen Fragen der Menschen."

Joelle Proust bewertet das erstaunliche Verhalten der Putzerlippfische als empirischen Beleg dafür, dass es eine im Tierreich weitverbreitete Form sprachunabhängiger Vernunft gibt. Die Behauptung, Tiere träfen vernünftige Entscheidungen, könnte leicht wie ein begrifflicher Etikettenschwindel aussehen. - Wir fassen einfach die Bedeutung von Rationalität weiter, dann fallen auch diese Tiere darunter. Doch hinter Prousts Behauptung steht eine komplizierte und detaillierte philosophische Theorie sprachunabhängigen Denkens, die sich bemüht, experimentelle Hinweise ernst zu nehmen und miteinzubeziehen, erklärt Markus Wild.

"Ich setze das gerne so an: Der basale Begriff ist Lebewesen und diese Lebewesen bilden Repräsentationen von der Welt aus, mentale Repräsentationen, das sind innere Zustände, vielleicht Zustände im Gehirn, oder im ganzen Nervensystem, die, sagen wir mal, die Welt abbilden. Und diese Abbildungen der Welt, wenn die bestimmte Bedingungen erfüllt, dann können wir sagen, so eine Repräsentation ist ein Gedanke über eine Welt. Und dazu braucht es keine Sprache. Dazu braucht es ein bestimmtes Lernvermögen. Dazu braucht es bestimmte angeborene Vermögen, wie Wahrnehmungsvermögen, oder das Vermögen, Dinge im Gedächtnis zu speichern. Und auf diesem Ansatz, glaube ich, kommt man auf einigermaßen komplexe kognitive Vorgänge, die nicht direkt an Sprache gebunden sind."

Entscheidend ist der Begriff der Repräsentation. An ihm hängt das gesamte Modell einer sprachunabhängigen Kognition. Der amerikanische Philosoph Fred Dretske habe diesen Begriff am besten erklärt, sagt Joelle Proust.

"Diese Vorstellung von Repräsentation basiert auf dem Begriff der Information als einer umgekehrten kausalen Beziehung. Jedes mal wenn eine kausale Beziehung vorliegt, gibt es potenziell Information, und zwar als die Wirkung ihrer Ursache. Die Evolution hat sich einfach auf diesen objektiven Tatbestand verlassen, um diejenigen Veränderungen des Organismus zu selegieren, die mit den Tatsachen in der Welt korrelieren. Und wenn diese Korrelation eins-zu-eins ist, dann kann man sagen, dass diese innere Tatsache eine äußere Tatsache repräsentiert."

Selbst einfachste Tiere, wie zum Beispiel "Seehasen" haben solche Repräsentationen. Seehasen, auch "Aplysia" genannt, sind Meeresschnecken, die bis zu 75 Zentimeter groß werden können. Wegen ihrer wenigen aber großen und leicht zu untersuchenden Neuronen sind sie beliebte Forschungsobjekte von Neurologen. Selbst Aplysia reagieren in einer Weise auf ihre Umwelt, dass Joelle Proust ihnen Repräsentationen zuschreibt. Denken können sie deshalb aber noch nicht. Denn dazu genügen einfache Repräsentationen nicht.

"Es ist keine mentale Repräsentation. Denn um mental zu sein, braucht es eine gewisse Flexibilität, die es dem Tier erlaubt, die Repräsentationen zu ändern und neue Repräsentationen zu erwerben."

Das können Seehasen nicht, und deshalb fehlt ihnen ein entscheidendes Element zum Denken. Wie aber kann man dieses Element beschreiben? Was macht eine Repräsentation zu einer mentalen Repräsentation? Da sind sich die Philosophen nicht einig. Für Markus Wild spielt die Möglichkeit des Irrtums eine entscheidende Rolle:

"Was sehr wichtig ist, ist dass diese Strukturen zum Beispiel auch falsch oder wahr sein können müssen. Weil das wird in der Philosophie, das finde ich auch richtig, sehr oft als eine wesentliche Bedingung für Gedanken betrachtet, dass Gedanken etwas sind, was auch falsch sein kann. Das klingt jetzt seltsam, dass man sagt, warum ist es so wichtig, dass man falsch sein kann? Na ja, der Punkt liegt darin, dass wenn etwas falsch sein kann, dann weiß man eben auch, wovon diese Gedanken handeln. Also die können auch fehlgehen."

Für Joelle Proust steht hingegen der Begriff der Objektivität im Mittelpunkt.

"Objektivität ist die Fähigkeit Unveränderlichkeiten herauszufiltern, die verschiedenen Sinnesmodalitäten gemein sind. Wenn ich zum Beispiel auf meiner linken Seite etwas höre, dann kann ich meinen Kopf nach links drehen und sehen, was da passiert. Und ich kann diese beiden sinnlichen Zugangsweisen zu diesem Ereignis als zwei Eigenschaften des Ereignisses selbst repräsentieren. Und diese Fähigkeit, hat sich gezeigt, haben nicht viele Arten. Säugetiere scheinen sie zu haben, das wissen wir aus empirischen Untersuchungen."

Ohne diesen multi-sensorischen Zugang sieht die Welt anders aus.

"Wenn man dieses multi-modale System nicht hat, dann besteht die Welt nur aus Eigenschaften, nicht aus Dingen. Dann sieht man die Welt nicht als aus Dingen zusammengesetzt. Das ist also eine ganz andere Phänomenologie. Die Welt sieht nicht gleich aus, wenn man nur Eigenschaften fühlen und auf sie reagieren kann oder wenn man individuelle Dinge hat."

Tiere, die die Welt als aus Dingen bestehend wahrnehmen, haben mentale Repräsentationen, das heißt: Gedanken. Um zu sagen, dass diese Tiere denken, fehle aber noch etwas, sagt Markus Wild.

"Man kann ja unterscheiden, dass man sagt, ein Tier hat einen Gedanken, das heißt das hat eine Vorstellung über etwas, was in der Welt passiert, sei es eine Vorstellung über etwas, das direkt vor seinen Augen oder seinen Ohren liegt, oder über etwas, das abwesend ist. Das ist das haben von einem Gedanken. Denken könnte man einfach eher fassen als das Verbinden von verschiedenen Gedanken oder das Verbinden von Mitteln, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Dieser Schritt wird zum Beispiel dann erreicht, und das sieht man von außen am besten, wenn Tiere Gegenstände brauchen, um an bestimmte Dinge heranzukommen."

Säugetiere, darin stimmen Markus Wild und Joelle Proust überein, nehmen die Welt wahr, sie erkennen Dinge in der Welt und viele, unter ihnen auf jeden Fall die Menschenaffen, setzten ihre mentalen Repräsentationen - das heißt, ihre Gedanken über die Welt - zueinander in Verbindung. Diese Tiere denken.

Sie tun dies in einem Sinne, in dem auch wir Menschen denken, denn die Theorie mentaler Repräsentationen gilt genauso für den menschlichen Geist. Das heißt aber noch lange nicht, dass alle geistigen Fähigkeiten von Menschen auch bei Tieren zu finden sind. Eine der großen offenen Fragen der Tierphilosophie lautet: Können Tiere Gedanken lesen? Damit meinen Philosophen nichts anderes als die Frage, ob einige Tiere, wie zum Beispiel Schimpansen Bewusstsein von den geistigen Zuständen ihrer Mitgeschöpfe haben. Wissen Schimpansen, dass andere Schimpansen Überzeugungen und Wünsche haben, die sich von ihren eigenen unterscheiden? Joelle Proust ist skeptisch:

"Die meisten Tiere, besonders Säugetiere, können Verhalten sehr gut voraussagen. Sie erkennen natürlich andere Tiere, die sie verfolgen, aber auch alle möglichen Motivationszustände in anderen Tieren ihrer Art. Mit Gedankenlesen meinen wir aber mehr: Man muss verstehen, dass der andere eine Repräsentation der Welt hat, die sich von der eigenen potenziell unterscheidet. Und das ist sehr, sehr schwer zu beweisen."

Mögliche Hinweise darauf, dass Menschenaffen diese Fähigkeit haben könnten, geben Experimente, die der amerikanische Verhaltensforscher Michael Tomasello in Leipzig durchgeführt hat. Schimpansen seien fähig zu erkennen, ob sie von jemand anderem gesehen werden oder nicht, erzählt Markus Wild.

"Wenn Schimpansen, die in starken Gruppenhierarchien leben, vom Alphatierchen gesehen werden, wie sie auf ein Essen zugehen, dann werden diese Schimpansen das Essen nicht nehmen, weil normalerweise das Vorrecht beim Alphatierchen liegt, auf das Essen zuzugreifen. Wenn aber das Alphatier den Schimpansen nicht sieht, dann wird er das Essen nehmen, bzw. wenn zwischen dem Essen und dem Alphatier ein Hindernis steht, dann wird er das Essen auch nehmen, weil er weiß, dass das Alphatier kein Blickkontakt oder keinen visuellen Zugang auf das Essen hat."

Der Schimpanse frisst nur dann, wenn das Alphatier ihn nicht sieht. Was aber sind die geistigen Prozesse, die zu diesem Verhalten führen? Zeigt das Experiment, dass der Schimpanse weiß, dass das Alphatier ihn sieht und dass das Alphatier die Überzeugung hat, ein Vorrecht auf das Futter zu haben? Oder lässt sich das Verhalten des Schimpansen auch anders erklären? Vielleicht reagiert der Schimpanse zum Beispiel nur auf ein bestimmtes Verhaltenssignal des Alphatiers. Die Interpretation solcher Experimente zeige die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens, sagt Julia Fischer.

"Man kann in vielen Fällen bei Experimenten, sagen wir mal, eine sehr hoch angesetzte Erklärung liefern, und eine Geschichte dazu erzählen, was alles in den Tieren vorkommt, oder man kann aber auch das oft sehr einfach auch erklären, also durch einfaches Lernen. Die haben einfach bestimmte Assoziationen, assoziatives Lernen, nennen wir das, also die haben einfach gelernt A und B und dann passiert als nächstes C, und die können dann Vorhersagen machen, aber das kann im Prinzip ungefähr jede Honigbiene auch. Also da streiten sich dann eben die Geister, wie man diese Daten letztendlich interpretieren soll."

Diesem "Streit der Geister" liegt eine grundsätzliche Methodenfrage zugrunde. Wenn es um die Interpretation von Verhalten geht, gibt es zwei einander entgegengesetzte Prinzipien. Das erste ist "Morgans Kanon" von 1894, benannt nach dem britischen Psychologen C. Lloyd-Morgan.

""In keinem Fall sollten wir eine Handlung als das Resultat der Ausübung eines höheren geistigen Vermögens interpretieren, wenn sie auch als Resultat eines Vermögens interpretiert werden kann, das in der geistigen Skala weiter unten steht." "

Das sei die richtige Maxime, sagt Julia Fischer, und sie geht noch einen Schritt weiter.

"Nur wenn es bei uns so ist, wenn wir so und so ein Verhalten zeigen, dann heißt das eben noch lange nicht, dass es bei Tieren auch so ist. Ja, dann steht man so ein bisschen mit leeren Händen da. Also nur weil es oberflächlich bei uns so aussieht wie bei denen, heißt es eben noch lange nicht, dass wirklich genau die gleichen Prozesse dem zugrunde liegen."

Damit bezieht Julia Fischer deutlich Stellung gegen eine zweite methodologische Maxime. 1580 schreibt der französische Philosoph Michel de Montaigne:

""Ich behaupte also, um auf mein Thema zurückzukommen, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, zu meinen, die Tiere täten aus zwanghaftem Naturtrieb, was wir aufgrund eigener Wahl und erworbener Kunstfertigkeit tun. Von gleichen Ergebnissen müssen wir vielmehr auf gleiche Kräfte schließen." "

Dieses Argument, in der Philosophie auch als Analogieschluss bekannt, hat einen schlechten Ruf, denn streng genommen hat es keine logische Gültigkeit. Deshalb bleiben, trotz aller Fortschritte im Detail, trotz philosophisch raffinierter Theorien des Geistes und aufwendig konstruierter Feldforschung und Experimenten - Restzweifel, sagt Julia Fischer:

"Wenn ich bei den Affen stehe und die beobachte, dann stelle ich mir auch manchmal vor, dass es sich in Wirklichkeit um eine Soap Opera handelt und dass die gerade dabei sind, Denver Clan auf Äffisch zu machen, usw., aber das hat mit der Wissenschaft nichts zu tun, das muss man einfach trennen. ( ... ) Ich hab' ja eineinhalb Jahre in Afrika gelebt und bin jeden Tag mit so einer Horde Paviane herumgezogen, und eigentlich hatte ich zunehmend das Gefühl, also praktisch je länger ich mit diesen Tieren zusammen war, desto klarer wurde mir, dass ich das ganz wichtige nicht verstehe und da nicht rankomme. Dass ich es einfach nicht weiß. Ich weiß nicht, was für die bedeutsam ist, was die wirklich übereinander denken."

Wie ähnlich sind uns Tiere, und wie fremd? Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? - Diese Frage des Philosophen Thomas Nagel war 1974 der Auslöser für das Projekt der kognitiven Ethologie. Beantwortet ist diese Frage auch heute noch nicht. Je mehr wir über Verhalten, Neurobiologie und Genetik erfahren, desto mehr Gemeinsamkeiten entdecken wir zwischen Menschen und anderen Lebewesen. Das Pendel schwingt deutlich aus hin zum Assimilationismus - immer mehr entdecken wir, wie ähnlich uns die Tiere sind - und wir ihnen. Doch das lässt die Frage, was uns Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, nur noch deutlicher hervortreten, sagt Markus Wild:

"Und ich glaube nicht, dass man aus dieser Spannung wirklich rauskommt. Also das gehört in letzter Hinsicht, glaube ich, zu unserem Problem des eigenen Selbstverständnisses, also ob wir uns eher als körperliche Wesen oder als mentale Wesen auffassen. Also diese Spannung zwischen Assimilationisten und Differentialisten ist auch eine Spannung, die wir in uns selber finden, wie wir uns selber als Mensch oder als Person auffassen wollen. Und wenn das konstitutiv zum Menschsein gehört, diese Spannung irgendwie dauernd auszutarieren, dann ist das auch nicht eine Diskussion, die man abschließen kann."