Das Ende der Halbgötter

Von Uwe Bork · 17.05.2010
Nehmen wir einmal meinen Schwiegervater: Mit seinen 85 Jahren sind seine Hüftgelenke längst nicht mehr kostenfreie Natur, inzwischen sind sie bei ihm kostspieliges <em>High Tech</em>. Nicht etwa, dass der alte Mann jetzt Tango tanzen könnte, aber er kann mit seinen Kunstknochen immerhin schmerzfrei durch seine Wohnung schlurfen.
Schön und gut, pflegen in solchen Fällen diverse Theoretiker der sozialen Ökonomie zu mahnen: Die Leute sind nun einmal alt, überlegt euch also genau, wie viel ihr noch in ihr Wohlbefinden investieren könnt oder wollt. Als einem der Ersten gelang es schon 2003 einem gewissen Philipp Mißfelder, mit der alles andere als sensiblen Bemerkung in die politische Unsterblichkeit einzugehen: "Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen."

Und? Kann man Herrn Mißfelder nicht vielleicht sogar verstehen, damals wie heute Vorsitzender der Jungen Union und jetzt auch noch CDU-Bundestagsabgeordneter? Ebenso alle anderen, die mit ihm nüchtern nachrechnen, was uns unser Gesundheitssystem genau kostet. Eiskalt analysieren sie, dass sich bei uns verhältnismäßig viele Alte auf Kosten verhältnismäßig weniger Junger von der Medizin einen möglichst beschwerdefreien Lebensabend modellieren lassen.

Unsere Halbgötter in Weiß, für die medizinisch immer mehr machbar ist, sehen sich folglich vor Grenzen gestellt, die mit ihrem eigentlichen Metier nichts mehr zu tun haben. Statt an Hippokrates, dem Helfer und Heiler, müssen sie sich immer mehr an Hermes orientieren – und der ist nun einmal der Gott der Kaufleute. Ihre scheinbare Allmacht ist dahin, begrenzt durch einen ganz banalen Zwang: Niemand kann auf die Dauer mehr ausgeben, als er einnimmt. So gaben drei von vier Krankenhausärzten jüngst in einer Umfrage an, aus Kostengründen Patienten schon einmal eine notwendige Therapie vorenthalten zu haben.

Eine Frage, die früher allenfalls ein paar Medizinethiker oder Klinikseelsorger interessierte, ist damit in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Wer entscheidet eigentlich über Leben und Tod? Über Weh oder Wohlergehen?

Wenn es nicht mehr nur darum geht, in einigen Grenzfällen seltener Krankheiten oder schwerster Behinderungen darüber Konsens herzustellen, ob Apparate ab- und Behandlungen eingestellt werden, rückt ein bis dato fernes Problem plötzlich erschreckend nahe. Es sind nicht mehr die Ausnahmefälle, deren Schicksal dann auf dem Spiel steht, es werden immer mehr unsere eigenen Eltern oder Großeltern sein. Schon morgen vielleicht sogar wir selbst.

Vor diesem Hintergrund steht uns eine gesellschaftliche Debatte ins Haus, gegen die das politische Hin und Her zwischen Gesundheitsprämie und Kopfpauschale bald so zweitrangig werden dürfte, wie es tatsächlich ist. Dann wird es nämlich nicht mehr um ein lästiges "Wieviel", sondern um ein existenzielles "Wofür" gehen – und das unmittelbar in unseren Familien.

In Schweden hat eine Reichstagskommission bereits vor rund zehn Jahren Konsequenzen gezogen, die sich bewusst nicht am Kassenstand orientieren. Eine Medizinversorgung nach Alter, Status oder Lebensstil lehnen sie ausdrücklich ab. Das Gesundheitssystem habe vielmehr dem Prinzip "Bedarf und Solidarität" zu gehorchen. Die begrenzten Mittel müssen den Patienten zugutekommen, die sie am dringendsten brauchen. Konkret kann diese Priorisierung bedeuten, dass bestimmte Leistungen aus dem Katalog der Krankenkassen gestrichen werden, um damit Mittel freizumachen für dringendere Aufgaben, etwa in der Altenpflege oder bei chronischen Krankheiten.

Ein vernünftiger Weg, scheint mir. Dass wir uns im Gesundheitswesen nicht mehr alles leisten können, ist sicher. Dass wir nun darüber reden müssen, was wir uns leisten wollen, ebenso. Wenn es demnächst einmal um meine Hüftgelenke geht, will ich schließlich nicht, dass darüber allein die Buchhalter entscheiden.


Uwe Bork, Journalist, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist außerdem Autor mehrerer Bücher.