Das digitale Gedächtnis Europas

Von Peter Kaiser · 20.12.2011
Das Wissen Europas über Kunst, Kultur, Technik und Geschichte lagert in den Museen und kulturellen Einrichtungen der jeweiligen Länder. Das gewaltige Projekt "Europeana" wird ein Internetportal mit dem gesamten kulturellen und historischen Wissen Europas. Dazu werden Gemälde, Filme, Objekte und Archivalien digitalisiert und dem zukünftigen Nutzer in einem Internetportal zur Verfügung gestellt. Derzeit sind die Arbeiten dazu europaweit in vollem Gange.
"Mein Name ist Arndt, Luisa Arndt. Ich wurde 1988 in Löbau, Deutschland geboren. Eines Tages, während ich im Internet surfte, stieß ich auf meinen Nachnamen Arndt, genauer gesagt: Otto Arndt. Vor etwa 100 Jahren war Otto Arndt ein deutscher Kriegsgefangener."

Die Geschichte ist anrührend, wirklichkeitsnah und – um die berühmte Gertrude Stein zu bemühen – es ist die Geschichte in der Geschichte der Geschichte. Die junge Luisa Arndt surft auf der Homepage des Europeana-Projektes und stößt dabei auf Bilder, die ihren Urgroßvater Otto Arndt während des Ersten Weltkriegs zeigen. Kurzerhand entscheidet sich Luisa nach Oxford zu fliegen, und dort in der Bibliothek nachzufragen.

Im zirka fünf Minuten langen Video des Europeana-Projektes gibt ihr Stuart Lee Auskunft. Dr. Lee ist Projektdirektor des Erster-Weltkrieg-Archivs an der Universität in Oxford, England. "Otto war in britischer Kriegsgefangenschaft", sagt er ihr.
Das Europeana-Projekt ist so gewaltig wie kaum eines der vielen Digitalisierungs-Projekte zuvor: Über 1500 Institutionen europaweit werden ihre Bestände digitalisieren und in einem multilingualen Internetportal dem Nutzer zur Verfügung stellen. Dabei geht es darum, dem "zukünftigen Nutzer das reiche und gemeinsame Erbe Europas nutzbar zu machen, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen, das Erbe für künftige Generationen zu bewahren", wie es in der Empfehlung einer hochrangigen EU-Expertengruppe heißt.

Dazu die Leiterin der Berliner Staatsbibliothek, Ursula Schneider-Kempf:
"Wir sind ja inzwischen doch mindestens soviel in der digitalen Welt unterwegs wie in der realen Welt. Und das Europeana-Projekt versucht an verschiedenen Stellen, interessante Themen, kulturell, wissenschaftlich interessante Themen digital aufzuarbeiten, zu sammeln. Und dann unter dem Dach 'Europeana' zu präsentieren."

Bücher, Zeitschriften, Filme, Karten oder Musikstücke, alles kann aufgerufen und eingesehen werden. Im MIMO-Link auf der Europeana-Homepage etwa, dem Musikinstrumentenmuseum online, können alte Musikinstrumente in Wort und Bild gesichtet und auch kurz angehört werden.

In England werden die Werke Darwins, Newtons gescannt. In den Niederlanden die Gemälde Vermeers, van Goghs, im Pariser Louvre die "Mona Lisa". Die Beispielliste ist schon lang. Start des Projektes war 2008. 2015 soll es dann möglich sein, sagt Ursula Schneider-Kempf, von der Berliner Staatsbibliothek, in der kulturellen Vielfalt von über 15 Millionen Objekten zu surfen.

"Die Vertiefung ist ja der nächste Schritt. Ich würde sogar sagen, wenn der Weg von da doch zum Original geht, dann ist eigentlich der richtige Weg beschritten. Was die Vertiefung angeht. Also, es ist oft ein Einstieg. Es kann sein, dass der reicht. Aber es ist immer auch möglich, dass mehr daraus folgt."

Tag für Tag wird europaweit per Handscanner oder Roboter weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkt alles digitalisiert, was einst in Europa geschrieben, komponiert, gezeichnet, entdeckt oder konstruiert wurde. Im Untergeschoss der Berliner Staatsbibliothek unter den Linden arbeiten "Präventus", der Scanroboter, und seine menschlichen Kollegen auf Hochtouren.

"In den Scanroboter legt man ein Buch rein, 90 Grad, und die Blätter werden angesaugt, und während des Hochsaugens werden die Seiten abfotografiert. Dort ist ein Prisma hinterlegt, und dort hinter ist eine fototechnische Einheit."

Die Dokumente des Ersten Weltkriegs, sagt Konstanze Rönnefahrt, die Leiterin des Digitalisierungszentrums in der Staatsbibliothek, müssen rechtzeitig ins Europeana-Projekt. Denn die Geschichte Europas zu digitalisieren heißt, auch dessen Katastrophen festzuhalten, wie etwa den Ersten Weltkrieg. Wie aber digitalisiert man einen Krieg?

Mareike Rake, Fachreferentin der Staatsbibliothek Berlin:

"Unser Projekt heißt Europeana Collections 1914-1918. Und das Wort Collections sagt es schon. Es geht um Sammlungen, vorrangig von Bibliotheken, aber auch einiger Museen und anderer Gedächtnisinstitutionen."

Was alles dazugehört, ist immens.

"Es finden sich, neben einer nationalistischen Predigt vom Tag nach Kriegsausbruch, amtliche Bekanntmachungen neben Heimatgrüßen. Schützengrabenzeitung neben Kriegskalendern. Und Kriegskochbücher, in denen man lernen konnte, wie sich aus Nichts noch etwas Nahrhaftes herstellen ließ. Neben Schulbüchern, in denen die Kinder das Rechnen nicht mehr mit Äpfeln und Birnen, sondern mit der Anzahl von Gefallenen und Überlebenden Soldaten lernen sollten. Und ich könnte hier noch endlos weitermachen."

Die Bezeichnung Europeana ist nur ein Dachname für viele Unterprojekte. Im "Europeana-Judaica"-Projekt etwa werden die Zeugnisse jüdischer Kultur im europäischen Kulturgut digitalisiert. Das ECLAP wird eine gewaltige digitale Bibliothek über Darstellende Künste, "European Film Gateway" beinhaltet Filmmaterial, "Euro-Photo" digitalisiert Fotos von Zeitungsagenturen, "Open UP" bindet Europas naturgeschichtliches Erbe ein, "Euscreen" europäisches Fernsehmaterial. 2015 sollen Nutzer europaweit auf diese ungeheure Datenbank zugreifen können.