Das Beben von Messina

Von Anselm Weidner · 28.12.2008
Eine bis zu zehn Meter hohe Flutwelle raste durch die Meerenge zwischen Sizilien und dem italienischen Festland, in Sekundenschnelle verwüstete der Tsunami die Städte Messina und Reggio di Calabria. Tausende Menschen starben an dem 28. Dezember 1908 - auch weil in den Städten Bauvorschriften nicht eingehalten wurden und Häuser zusammenbrachen.
28. Dezember 1908 morgens 5 Uhr 20: Die Erde bebt, drei Erdstöße in 30 Sekunden, eine bis zu zehn Meter hohe Flutwelle rast mit einer Geschwindigkeit von 100 Metern pro Sekunde durch den "Stretto”, die Meerenge zwischen Sizilien und dem italienischen Festland, und verwüstet in Sekundenschnelle die Städte Messina und Reggio di Calabria. 90 Prozent der Gebäude werden geradezu pulverisiert, die Straßen fünf Meter hoch mit Schutt bedeckt.

Die Zone der Verwüstung des Erdbebens von Messina lag in der bis heute seismologisch sensibelsten und unruhigsten Region Europas, erläutert Rainer Kind, Professor für Geophysik an der FU Berlin und Leiter der Sektion Seismologie am Geoforschungszentrum in Potsdam.

"Die Anzahl der Opfer, die man schätzt, schwankt zwischen 50 und 100.000 Todesopfern. Es ist eine Region von etwa 30 mal 20 Kilometer Größe total zerstört worden."

Da der Aquädukt eingestürzt war, gab es kein Wasser außer in einigen stinkenden Brunnen, die durch Tausende verweste Leichen verpestet waren. Die meisten Fischerboote waren gesunken oder wurden zertrümmert, als die Flutwelle hereinbrach und über tausend Menschen davontrug, die Schutz suchend am Ufer kauerten. Hunderte wurden wieder ans Land gespült, wo sie in der Sonne verwesten,

berichtet ein Zeitzeuge, der schwedische Arzt Axel Munthe. Er gehörte zu den ersten Helfern im Inferno von Messina.

Mit einem Wert von sieben auf der nach oben offenen Richterskala war das Beben in der Meerenge, die das Tyrrhenische mit dem Ionischen Meer verbindet, nicht besonders stark. Wie es trotzdem zu der enormen Zerstörungskraft kam, weiß man erst seit kurzem. Rainer Kind:

"Jetzt nach neueren Forschungen ist man zu der Überzeugung gekommen, dass das Erdbeben eine untermeerische Hangrutschung ausgelöst hat, die dann den Tsunami verursachte. Das ist gleich am Anfang vermutet worden aber jetzt erst endgültig bewiesen worden. Das ist natürlich sehr wichtig, so etwas zu wissen, denn wenn man die Tsunamiwellen modellieren will, wie das jetzt bei modernen Tsunami-Warnzentren gemacht wird, dann muss man die genauen Ursachen kennen."

Der Tsunami, zu deutsch "große Welle im Hafen”, forderte zwar auch viele Opfer, aber der Großteil war der schlechten Bauqualität der Gebäude geschuldet. Nach dem letzten großen Beben in Messina 1783, waren strenge Bauvorschriften erlassen worden. Nur die waren schon bald vergessen. Man baute wieder leichtsinniger und schlechter, gewagte Turmkonstruktionen, vorgehängte Balkone, unzureichend gestütze Decken und Böden. Das Erdbeben von Messina könnte uns heute eine Warnung sein, wie tödlich Vergessen sein kann, so der Berliner Seismologe Kind:

"Normalerweise werden Schutzmaßnahmen immer erst ergriffen, wie diese Bauvorschriften, nach Katastrophen. Oder Tsunamiwarnsysteme werden nach großen katastrophalen Tsunamis eingerichtet, nie vorher. Denn die Katastrophen werden im Laufe einer Generation wieder vergessen und man muss da eben berücksichtigen, das menschliche Leben ist sehr kurz verglichen mit dem, was in der Erde passiert. Und wenn mal 20 bis 30 Jahre oder auch 50 Jahre keine solche Katastophe passiert, dann heißt das nicht, dass das nicht in der nächsten Minute passieren kann. Es kann jederzeit wieder passieren und im Mittelmeergebiet gibt es zurzeit kein Tsunamiwarnsystem."

Dies Gebiet ist Teil der sogenannten Subduktionszone, in der sich die afrikanische Platte kontinuierlich nach Norden bewegt, den Meeresboden von Ägäis und Tyrrhenischem Meer unter sich zieht und das Mittelmeer dabei langsam zuschiebt. Die tektonischen Spannungen zwischen der eurasischen und afrikanischen Platte sind auf einer Linie von der Straße von Messina mitten durch den südlichen italienischen Stiefel bis auf die Höhe von Rom unverändert stark. 13mal wurde die Erde in den letzten 315 Jahren dort durch mindestens so starke Erbeben wie das von Messina 1908 erschüttert. Hier besteht in Europa nach wie vor die größte Erdbeben- und Tsunamigefahr.

Im Mai dieses Jahres geriet das Erdbebengebiet wieder in die Schlagzeilen, als die Regierung Berlusconi beschlossen hatte, eine Brücke über die Meerenge von Messina zu bauen - ein uraltes Prestigeprojekt, das schon Archimedes berechnete und an dem sich die Römer einst versuchten. Jetzt soll hier mit 3300 Meter Länge und fast 400 Meter hohen Pfeilern die längste und höchste Brücke der Welt entstehen - entgegen allen Warnungen der Erdbebenfroscher.