Daniel Kehlmann: "Du hättest gehen sollen"

Schwache Erzählung mit alten Motiven

Links das Buchcover von Daniel Kehlmanns "Du hättest gehen sollen", rechts der Autor im Kuli 2016 in Potsdam.
Links das Buchcover von Daniel Kehlmanns "Du hättest gehen sollen", rechts der Autor im Kuli 2016 in Potsdam. © Rowohlt/imago/Martin Müller
Von Sigrid Löffler · 21.10.2016
Ein Drehbuchautor in einer Schaffenskrise leidet unter Wirklichkeitsverlust. Das ist der Kern von Daniel Kehlmanns neuer Erzählung "Du hättest gehen sollen". Die 90 Seiten zeugen nicht gerade von Kehlmanns schöpferischer Kraft, meint die Literaturkritikerin Sigrid Löffler.
Nichts tut Daniel Kehlmann, dieser geschickte Fiktionen-Jongleur und literarische Traumtänzer, lieber und gewitzter, als sich selbst zu bespiegeln. Keine Metapher wird in seinen Texten öfter und intensiver eingesetzt als der Spiegel. Kehlmanns Figuren erkennen sich im Spiegel nicht wieder, werden sich im Spiegelbild fremd und unwirklich, kommen sich in Spiegelungen selbst abhanden oder vervielfältigen und verirren sich in Spiegelungen, verlieren die eigene Identität in Doppelgänger-Figuren, wissen nicht mehr, auf welcher Seite des Spiegels das Original und auf welcher die Abbilder zu finden sind.

Dem Helden kommt die Wirklichkeit abhanden

In Kehlmanns neuer Erzählung "Du hättest gehen sollen" ist wiederum ständig von Spiegelungen und Bildern die Rede. Sein Held und Ich-Erzähler, ein Drehbuch-Autor in der Schreibkrise, sitzt nachts in einem gemieteten einsamen Chalet im Gebirge vor der dunklen Fensterwand, die seinen Schreibtisch und das beleuchtete Zimmer widerspiegelt: "Aber mich sehe ich nicht. In dem Zimmer im Spiegelbild ist keiner."
Der Held glaubt bald nicht mehr an eine optische Täuschung, sondern wird von einem Realitätsschwindel angewandelt, der in der Folge das ganze Haus erfasst. Er kann seinen Wahrnehmungen nicht mehr trauen und gerät in immer tiefere Verwirrung, die er sich nicht mehr mit schlechten Träumen, Einbildungen, Halluzinationen oder Fieberanfällen erklären kann. Auf die Dinge im Haus ist kein Verlass mehr, sie spielen ver-rückt: Sie rutschen weg wie der Wasserhahn über der Badewanne oder verschwinden ganz wie das Frauen-Bild an der Wand, das erst in der Wäschekammer hängt und dann einfach weg ist. Der Held selbst fühlt sich "wie in zwei Wesen gespalten": Wenn er die Haustür öffnet, fürchtet er, selbst davor zu stehen.

Kehlmann als "matter Epigone von Stephan King"

Das Haus selbst wird immer unheimlicher. Von außen gesehen verändert es seine Gestalt, wirkt mal kleiner, mal größer, "ragt spitz und riesenhaft, aber nicht nach oben". Die Hausfassade "kräuselt sich um das Fenster". Die Dörfler raunen von unerklärlichen Vorgängen in diesem Haus und seinen Vorgänger-Bauten. Urlauber seien verschwunden und nie mehr aufgetaucht. Der Ort selbst, an dem das Haus steht, sei des Teufels. Ein vom Teufel gebauter Turm sei dort ursprünglich gestanden. Gott habe ihn zerstört. Der Held fühlt, dass er in der Falle sitzt. Als er mit seiner kleinen Tochter ins Dorf flüchten will, führt ihn die Straße wieder vor die eigene Haustür zurück. Zu spät sagt er sich: Du hättest gehen sollen.
Zu fragen ist, ob die Schreibkrise des Helden nicht eigentlich die Schreibkrise des Autors reflektiert. Mit dieser mit neunzig Seiten nicht nur schmalen, sondern auch dünnen Erzählung wirkt Kehlmann wie ein matter Epigone von Stephen King. Auch bei Stanley Kubricks "Shining" hat er sich deutlich, aber kraftlos bedient. Die Spiegel-Metapher ist vom vielen Gebrauch schon ganz ausgelaugt, die Einfälle sind schwächlich, der Plot überzeugt nicht, die Figuren sind leblos, ganz besonders die Ehefrau des Helden, eine "schöne, berühmte, rätselhafte Schauspielerin", die auch noch "einen Abschluss in Deutscher und Klassischer Philologie hat", ohne dadurch an Plastizität zu gewinnen.

Kunstfertigkeit lässt zu wünschen übrig

Daniel Kehlmann ist ein umtriebiger Netzwerker, der in den Literaturszenen von Berlin bis New York allgegenwärtig ist. Die Verfilmungen seiner Bücher halten ihn in Atem, wie auch die Auftritte mit berühmten Kollegen wie Jonathan Franzen oder Teju Cole. Kehlmann verzettelt sich: Unter den zahllosen Nebenbeschäftigungen leidet das Hauptgeschäft. Schon in Kehlmanns letzten beiden Romanen, "Ruhm" und "F", fiel auf, dass sie nur noch kunstfertig um eine leere Mitte kreiselten. Inzwischen lässt auch die Kunstfertigkeit zu wünschen übrig.

Daniel Kehlmann: "Du hättest gehen sollen"
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016
92 Seiten, 15,00 Euro

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