Da sein, wo gelitten wird

Von Klaus Hart · 10.12.2011
Immer wieder gibt es Schlagzeilen über Brasiliens Gefängnisse: Folter, Aufstände und Blutbäder. Ein deutscher Pfarrer versucht mit katholischen Kollegen und Freiwilligen verschiedener Konfessionen Seelsorge zu leisten - auch für Häftlinge aus Deutschland.
"Ich habe selber mal im Gefängnis gesessen, in Zimbabwe, ich hatte für den Lutherischen Weltbund gearbeitet – da habe ich die Ängste kennengelernt. Jesus sagt, ich bin da, wo gelitten wird. Das müssen wir umsetzen."

Pastor Wolfgang Lauer aus der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover lebt seit über zwei Jahren in der Megacity Sao Paulo und hat in seiner dortigen Synode, zu der auch die Nachbarteilstaaten Rio de Janeiro und Minas Gerais gehören, eine Gefangenenseelsorge aufgebaut.

Pastor Lauer wurde zum Zeugen beinahe unbeschreiblicher Zustände.
Häufig schreien in den Haftanstalten die Eingesperrten gleich durch die Gitterstäbe Protest, Wut und Verzweiflung heraus:

"Die Zellen sind alle dreckig, voller Ratten und großer Kakerlaken. In dieser Zelle dürften nur vier sein, doch wir sind über 50, nebenan sind's 40. Viele haben Tuberkulose, aber medizinisch betreut werden wir nicht. Es gibt nicht mal Platz für alle zum Schlafen – ein Teil muss wach bleiben, damit sich die anderen hinlegen können. Weil wir kein Klo haben, müssen wir diese ganzen Eimer da benutzen, deshalb stinkt es so bestialisch hier."

Zu den unerträglichen hygienischen Verhältnissen kommen die Misshandlungen, die gegen die internationalen Menschenrechtskonventionen verstoßen. Pastor Lauer:

"Ein Westafrikaner – von der Polizei gefoltert worden. Er hatte Drogen geschluckt. Am Airport haben sie ihn körperlich gebrochen, es ist mittelalterlich. Der saß im Rollstuhl, konnte nicht mal liegen, war überall wund. Der war psychisch so gebrochen, wie seine Beine gebrochen waren, und sein Körper. Das kann man sich schlimmer nicht vorstellen. Dann hat er seine englische Bibel rausgeholt, ich habe mit ihm gebetet, habe ihn gesegnet, mit ihm gesprochen."

Tag für Tag geht Lauer an seinen Grenzen, zwängt sich selbst in die am meisten überfüllten Zellen, mit weniger als einem Quadratmeter pro Häftling:

"Ein junger Mann hatte ein gebrochenes Bein, das war nicht behandelt worden, blutunterlaufen. Der kann nicht auftreten. Keine Ausnahme, das habe ich überall erlebt. Da kommt es vor, dass Leute sehr krank werden, extrem krank, und nach Aussagen der Gefangenen auch sterben."

Der deutsche Gefangenenseelsorger ist groß, kräftig gebaut, wirkt sehr robust – wie kommt er mit diesen extremen Belastungen zurecht?

"Manchmal halte ich’s nicht aus. Muss man einfach sagen. Ich brauche auch mal Seelsorge. Ich habe einen Vorteil – psychologische Ausbildung. In Deutschland war ich bei 'ner evangelischen Lebensberatung. Seelsorge mache ich sehr gerne. Ob die Leute, die ich besuche, nun Lutheraner sind, Christen oder nicht, das ist für mich total unwichtig."

Der Einstieg in die Gefangenenseelsorge war wegen der brasilianischen Gefängnisbürokratie sehr schwierig. Pastor Lauer konnte sich aber auf die Hilfe der katholischen Gefangenenseelsorge verlassen, die bereits seit Jahrzehnten landesweit für die Menschenrechte der Häftlinge streitet. Dort ist man froh, erstmals von der lutherischen Kirche Brasiliens Tag für Tag tatkräftig unterstützt zu werden und bildete Pastor Lauers stetig wachsendes Freiwilligenteam aus. Gemeinsame Häftlingsbesuche, gemeinsame Gefangenengottesdienste, gemeinsame Aktionen in der Öffentlichkeit. Denn Seelsorge hat viele Seiten:

"Gespräche über Gott, dein Leben, juristischen Beistand, Informationen, was zu essen kaufen, Kleidung. Kontakte mit den Familien halten. Die lassen auch ihre Wut aus: dieser Idiot! Ich sage, hast Recht, aber wie können wir ihm helfen, dass er wieder auf die Beine kommt, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Vergebung – Jesus – ganz einfach! Im Hochsicherheitsgefängnis sitzt ein Deutscher türkischer Abstammung – für den fahre ich 300 Kilometer hin, bin mit den Eltern im Kontakt, schwierig. Einerseits ist es für die Gefangenen, das ist das Hauptmotiv – aber gleichzeitig geht es auch um Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft, einschließlich in der Kirche. Natürlich mobilisiere ich Leute."

Selbst Brasiliens größte Wunderheiler-Kirche, die relativ gemäßigte Assembleia de Deus, zu Deutsch Gottesversammlung, bat Pastor Lauer, beim Aufbau einer Gefangenenseelsorge zu helfen. Nun macht Lauer für Dutzende von evangelikalen Geistlichen und noch mehr Freiwillige dieser Kirche Workshops, formuliert Programm und Projekte. Denn die Gottesversammlung ist an den Slumrändern stark vertreten, von wo die allermeisten der Häftlinge stammen. Lutheraner gibt es laut Pastor Lauer kaum im Gefängnis, da sie aus einer anderen sozialen Schicht kommen.

Kürzlich gedachte die katholische Gefangenenpastoral des ungesühnten Massakers vor neunzehn Jahren an weit über einhundert Häftlingen in Sao Paulo. Beim Protestgottesdienst stand Pastor Lauer zwischen verschiedensten Geistlichen, darunter auch ein Rabbiner und ein Spiritist, und sprach auf Englisch ein Gebet. Priester Valdir Silveira leitet die katholische Seelsorge ganz Brasiliens. Beim Gottesdienst machte er seiner Empörung Luft:

"Das Massaker von Carandirú geht weiter – an den Slumperipherien Brasiliens. Blutbäder werden an Armen verübt – das alles müssen wir diskutieren – Ursachen und Auftraggeber. Warum diese Kriminalisierung der Armut?"

Padre Silveira spricht den Besuch einer Expertendelegation der UNO im Jahr 2011 an. Die war nicht bereit, die entsetzlichsten Polizeigefängnisse Sao Paulos zu inspizieren – und traf sich lediglich mit Autoritäten des Teilstaats.

"Die UNO tat hier nicht, was sie tun müsste – unsere Kirche ist empört über diese Art von Besuchen. Sie wollten all das nicht sehen – diese überfüllten Zellen, Gewalt aller Art, fehlende medizinische Betreuung, fehlende Resozialisierung. Durch die Art der Vorgehensweise erhalten UNO-Delegationen keine realen Daten über das Gefängnissystem."

Pastor Lauer weiß um das Los der deutschen Gefangenen in Brasilien. Er erinnert an ein bilaterales Abkommen zur gegenseitigen Überstellung von Verurteilten. Deutsche saßen nur einen Teil ihrer Strafe in Brasilien ab, den Rest in Deutschland – gut für die Reintegration, den Kontakt zu Angehörigen:

"Das gibt’s aber nicht mehr. Was ich hörte aus gutem Munde – die Richter in Deutschland haben gesagt – Brasilianer, die in Deutschland verurteilt werden, können wir nicht ausliefern in ein unrechtes Gerichtswesen. Denn dort werden die gefoltert, das weiß ja jeder Mensch. Allein schon die menschenunwürdigen Zustände in den brasilianischen Gefängnissen. Aber – die deutsche Regierung setzt sich nicht für ihre eigenen Gefangenen ein – die dürfen schmoren – da, wo die deutschen Richter die Brasilianer nicht schmoren lassen. Das heißt, der deutsche Staat wendet andere Standards an als die deutschen Richter."

Pastor Lauer sieht den Grund für das mangelnde Engagement des deutschen Staats ganz klar bei den zuständigen Regierungsstellen in Berlin:

"Es sind einfach die ökonomischen Interessen, die politischen, das gehört zusammen. Da gefährdet man nicht seine Beziehung, indem man den Brasilianern sozusagen mal den Spiegel vorhält und sagt, ihr habt hier ne schöne Verfassung und schöne Gesetze, aber warum werden die nicht eingehalten?"

Kirchliche Bürgerrechtler Brasiliens vermissen seit langem klare Stellungnahmen hochrangiger europäischer Besucher zur gravierenden Menschenrechtslage in Lateinamerikas größter Demokratie. Weil damit der Eindruck entstehe, Wirtschaftsinteressen hätten Vorrang vor den Menschenrechten.
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