Colm Tóibín: "Nora Webster"

Eine Frau entdeckt das Leben neu

Eine Frau springt in den Guggenberger See nahe Neutraubling.
In "Nora Webster" entdeckt eine Frau ihr Leben nach dem Tod ihres Mannes neu. © dpa/ picture-alliance/ Armin Weigel
Von Sigrid Löffler · 29.08.2016
Colm Tóibín lässt seine Heldin Nora Webster keine großen Abenteuer bestehen. Aber mit der Beschreibung des Alltäglichen zieht Tóibín seine Leser trotzdem in den Bann. Und so folgen sie der jungen Witwe gespannt bei ihren Emanzipationsversuchen in der irischen Provinz.
Auf den ersten Blick könnte nichts alltäglicher und gewöhnlicher sein als diese Geschichte. In seinem achten Roman "Nora Webster" erzählt der irische Autor Colm Tóibín von einer frisch verwitweten Frau Mitte vierzig, die in den späten 1960er Jahren in der irischen Provinz gemeinsam mit ihren vier Kindern lernen muss, ohne den Ehemann und Vater zurechtzukommen.
Einmal mehr erweist sich Tóibín als diskreter, geduldiger und genauer Erforscher der verschwiegenen Selbstbefreiungsversuche von Menschen im komplexen Zusammenspiel mit ihrem sozialen Umfeld und den Instanzen, die ihr Leben bestimmen. Immer geht es ihm um das Aufbegehren und die Flucht seiner Romanfiguren aus den emotionalen und sozialen Einengungen im randständigen Irland unter rigider katholischer Observanz. Sie suchen sich aus der lückenlosen sozialen Kontrolle zu befreien, die eine penetrant neugierige Nachbarschaft im kleinbürgerlichen Milieu eines irischen Provinzstädtchens über das Leben jedes Einzelnen ausübt, indem sie über die Einhaltung der Konventionen wacht und jeden Ausbruchsversuch mit Missgunst und sogar Ächtung ahndet.

Die Söhne leiden unter der Selbstfindung der Mutter

Aus dieser rückständigen und erstickenden Welt, "wo jeder über sie Bescheid wusste und die Jahre, die noch vor ihr lagen, bis ins letzte Detail vorgezeichnet waren", sucht sich die Heldin Nora Webster, eine intelligente, selbstreflexive und starke Frau, mit subtilem Eigensinn zu einem selbstbestimmten Leben durchzukämpfen, auch wenn sie dadurch in Konflikt zwischen den Ansprüchen ihrer vier Kinder und ihren eigenen Interessen gerät. Dass sie mitunter die Interessen der Kinder hintanstellt, um zu sich selbst zu finden, nehmen ihr vor allem die halbwüchsigen Söhne übel, die noch zuhause leben. Donal, der ältere Sohn, reagiert auf den Verlust des Vaters und die Verselbständigung der Mutter, indem er zu stottern beginnt und sich aus der Familie zurückzieht - ein Eigenbrötler, der das Leben nicht lebt, sondern es fotografiert. Nur in der Dunkelkammer lebt er auf.
Die autobiografischen Bezüge sind in diesem Roman deutlicher als sonst in Tóibíns Erzählwerk. Kaum verhüllt erzählt er das Leben seiner eigenen Mutter. Der Roman-Schauplatz, die Kleinstadt Enniscorthy in der südöstlichen Grafschaft Wexford in der Republik Irland, ist auch Tóibíns Herkunftsort und diente bereits in mehreren früheren Romanen des Autors, zuletzt in "Brooklyn" (2010), als Schauplatz. Wie die Romanheldin Nora verlor auch Tóibíns Mutter in mittleren Jahren ihren Ehemann, einen beliebten Lehrer des Ortes, der sich in der liberalen Partei Fianna Fáil engagierte. Und wie Donal war auch Tóibín selbst mit zwölf Jahren Halbwaise und begann zu stottern.

Tóibín erweist sich wieder als Meister des Frauen-Porträts

Von Feminismus kann im provinziellen Irland der 1960er und 1970er Jahre noch keine Rede sein. Colm Tóibín lässt seiner Heldin denn auch keine großartige Emanzipation angedeihen, zeigt aber alternative Lebensentwürfe auf, die sich ihr allmählich eröffnen. So still wie störrisch und in kleinen Schritten befreit sich Nora Webster aus dem Gefängnis ihrer Trauer und ihrer Witwenschaft und aus ihrem Leiden an der frustrierenden Langeweile des Provinzlebens. Sie setzt kleine Signale: Sie lässt sich die Haare färben und trägt bunte Kleidung. Sie entdeckt neue Stärken an sich und entwickelt neue Interessen. Sie nimmt eine Büroarbeit an und behauptet sich gegen eine tyrannische Vorgesetzte. Sie tritt der Gewerkschaft bei. Sie macht Urlaub in Spanien. Sie nimmt Gesangstunden und wird Mitglied einer rührend altmodischen Grammophon-Gesellschaft, wo man gemeinsam Schallplatten mit klassischer Musik hört. Sie entdeckt ihre Liebe zur Kammermusik.
"Nora Webster" erzählt ein unscheinbares und alltägliches Frauenleben auf unspektakuläre Art, die den Leser gleichwohl in Bann schlägt und Colm Tóibín einmal mehr als meisterlichen Frauen-Porträtisten zeigt. Was unterschwellig allerdings immer mitläuft, ist eines der Hauptthemen im Erzählwerk dieses Autors - das ambivalente Verhältnis zwischen Müttern und Söhnen. Die Söhne in seinen Romanen und in dem Erzählungsband "Mütter und Söhne" (2009) arbeiten sich nicht nur an ihren individuellen Müttern ab und hadern mit deren Defiziten, sondern auch an den metaphorischen Mutter-Instanzen, an Mutter Irland und der bösen Mutter Kirche. So ist auch in "Nora Webster" die Entfremdung zwischen Mutter und Sohn der Preis, den beide für Noras Selbstbefreiung zu zahlen haben.

Colm Tóibín: "Nora Webster"
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
Carl Hanser Verlag, München 2016
384 Seiten, 26,00 Euro

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