Christoph Marthalers "Die Wehleider"

Die Verlustrealitäten des alten Europa

"Die Wehleider" am Hamburger Schauspielhaus: die Schauspieler Joaquin Abella (l-r), Antonio Jimenez Navarro, Haizam Fathy, Josef Ostendorf, Martin Pawlowsky, Marc Bodnar, Altea Garrido, Sachiko Hara, Jan-Peter Kampwirth, Sasha Rau, Bettina Stucky und Jean-Pierre Cornu stehen in einer Reihe - alle mit Matratzen in der Hand, aufgenommen am 1.12.2016.
Szene aus "Die Wehleider" am Hamburger Schauspielhaus © picture alliance / dpa / Markus Scholz
Michael Laages im Gespräch mit Britta Bürger · 02.12.2016
Von Leuten, denen es aus Angst vor dem sogenannten Flüchtlingsstrom immer schlechter geht, erzählt Christoph Marthaler in "Die Wehleider" im Hamburger Schauspielhaus. Ein extrem kämpferischer und polemischer Theaterabend, an dessen Ende ein Tribunal gegen das alte Europa steht.
Britta Bürger: Die Theaterpremiere des Abends führt uns ans Hamburger Schauspielhaus, wo Christoph Marthaler und seine Bühnenbildnerin Anna Viebrock einen neuen gemeinsamen Wurf präsentieren. Gerade haben die beiden ja ihren Ausstand an der Berliner Volksbühne gegeben, "Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter" hieß dieser Abend, auf den nun "Die Wehleider" folgen, ein Stück, das nach Motiven aus Gorkis "Sommergästen" entstanden ist und in dem wieder die großartige Irm Hermann mitspielt.
O-Ton Irm Hermann: Ich begrüße Sie in der Privatspezialklinik für Angst, Depression und psychosomatische Störungen von Doktor Amelungen und Professor Kiun Pong sowie der Firma Helpdesk GmbH.
Britta Bürger: Komik, Melancholie, Menschlichkeit und Lächerlichkeit – ich bin gespannt, ob Christoph Marthaler all das auch in seiner neuen Arbeit auskostet. Für "Fazit" war Michael Laages bei der Premiere, "Der Wehleider", schon dieses Wort bleibt einem ja so ein bisschen im Halse stecken, nicht die Wehleidigen, sondern die Wehleider. Herr Laages, was sind das denn für Menschen?
Michael Laages: Ja, es gab vor Jahren mal ein Stück, das hieß "Die Untergeher", von Peter Turrini. Die Wehleider sind tatsächlich Wehleidige, aber es hat dadurch, dass es sozusagen diese Substantivierung kriegt, hat es irgendwie etwas Monströseres, also Deutlicheres. Die Wehleider sind Leute, die jammern, dass es ihnen immer schlechter geht, und Leute von heute, die befürchten, dass der berühmte Flüchtlingsstrom, der da kommt und ihre sozialen Sicherungen kaputtmacht, dass der ihnen sozusagen den Boden unter den Füßen wegziehen wird.

Eine Bombe in die Gesellschaft werfen

Und das ist tatsächlich das Andocken an die "Sommergäste" von Gorki. Sie kennen das Stück bestimmt, da kommen zu einem etwas versoffenen und zynischen Landgutherrn ziemlich viele Leute hinausgefahren, um dort Sommerferien zu machen, und die haben natürlich nichts zu verhandeln als lächerliche kleine Problemchen, und unter ihnen wächst so langsam – zumindest bei einigen – die Sehnsucht danach, quasi eine Bombe in diese Gesellschaft zu werfen, und das ist natürlich auch politisch gemeint in dem Fall, und auszubrechen und tatsächlich an ein neues Ufer aufzubrechen.
Diese Chance ist bei den Wehleidern von heute, wie Marthaler und Viebrock sie beschreiben und die Dramaturgin Stefanie Carp, die zum Dreamteam auch wieder dazugehört, diesen Ausweg gibt es heute nicht mehr, die leiden daran, wie schlecht es ihnen gehen wird, am Ende stehen sie in etwa zehn Jahren nach den kriegerischen Auseinandersetzungen um die Flüchtlinge in Europa und den Untergang Europas, stehen sie sogar vor Gericht.
Britta Bürger: Irm Hermann hat diese Wehleider ja eben in einer Klinik begrüßt. In eine Klinik geht man, wenn man sich heilen lassen will.
Laages: Ja, das ist der Raum, den Anna Viebrock erfunden hat, wahrscheinlich hat sie ihn wieder irgendwo gefunden. Das ist eine Turnhalle, wie sie vielleicht irgendwo auf einer griechischen Insel auch steht, also mit Ringen, einem Reck, mit Sportmaterialien, aber auch so mit Matten, die fürs Bodenturnen hier sind, aber hier zum Schlafen sind. Also, es ist sozusagen ein Übungsraum für Fluchtverhalten, für den Abbau oder den Aufbau von Paranoia.
Und das sind Leute, die kommen dahin – sie hat es zu Anfang ganz schön so beschrieben, sie ist die Chefärztin in diesem Laden –, dass das Leute sind, die an ihren Ängsten, an ihrer Paranoia, die aus der Situation der Welt, wie sie ist, erwachsen ist und immer verrücktere Formen annimmt, behandeln zu lassen. Also, innerhalb dieses Ensembles gibt es drei Tänzer, der Abend hat eine sehr choreografische Note, drei Tänzer, die auch eindeutig Ausländer sind, und ja, teilweise sind sie die Pfleger, teilweise üben sie mit denen, also, sie machen so Bodenturnen oder imitieren kleine Übungen, um den Körper zu ertüchtigen, die sind immer da und die sind immer fremd.
Und die werden sozusagen subkutan immer stärker, bis sie am Schluss tatsächlich die Matten alle auf einen Haufen werfen, und das Ensemble paradiert noch einmal mit immer weniger Kleidung an, sie sind sozusagen aller ihrer Verpackungen, aller ihrer Schönheiten beraubt und müssen dann irgendwie auf diesen Matten Platz nehmen. Das ist ein sehr politischer Abend, muss man mal so sagen, das ist nicht nur ein heiterer Marthaler-Abend, wie das früher häufig so war, das …
Britta Bürger: Ja, klingt auch nicht so.

"Das geht ziemlich unter die Haut"

Laages: Nee, das ist ein extrem kämpferischer und geradezu polemischer Abend. Also, das liegt bestimmt auch ein bisschen an Stefanie Carp, die ja auch schon den Fellini, "Schiff der Träume" mit Karin Beier in diese Richtung gedrängt hatte. Also, am Ende, da wird es richtig polemisch, das ist ein Tribunal gegen das alte Europa, das es nicht geschafft hat, seine Werte zu bewahren in der Auseinandersetzung um die Geflüchteten all überall auf der Welt, dass es nicht geschafft hat, all seinen Idealen treu zu bleiben, und jetzt quasi vor einer Art Kriegsverbrechertribunal steht. Das ist ziemlich heftig und das geht glaube ich auch denen, die einfach nur so einen Marthaler erwartet haben, ziemlich unter die Haut.
Britta Bürger: Das heißt, er nimmt die Ängste ernst, ohne sich an Rechtspopulisten anzubiedern?
Laages: Nein, im Gegenteil. Die Ängste sind ja da, die Konsequenzen sind immer die, um die es geht. Es gibt eine Figur, den Josef Ostendorf, der hat die Trump-Tolle, die blonde Trump-Tolle auf den Kopf gehauen gekriegt. Nein, es ist natürlich das genaue Gegenteil von dem, was man als Populismus bezeichnen könnte. Es ist das Jammern lächerlicher Leute. Sie regen sich darüber auf, dass sie vielleicht ihre Zweitwohnung verlieren würden! Na ja, gut! Einrichten wird man sich auf anderes, wenn tatsächlich erst mal die wirklichen Flüchtlingswellen kommen. Und das ist der Abend, das ist sozusagen der Ansatz des Abends, Europa unter die Nase zu binden und um die Ohren zu hauen, dass man sich auf ganz andere Verlustrealitäten wird einstellen müssen, wenn die Welt so bleibt, wie sie ist.
Britta Bürger: Michael Laages über den neuen Theaterabend von Christoph Marthaler am Hamburger Schauspielhaus, "Die Wehleider". Die nächsten Vorstellungen sind am 9., 13., 17. und 28. Dezember. Besten Dank, Herr Laages!
Laages: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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