Christian H. Freitag: "Ritter, Reichsmarschall & Revoluzzer"

Blick durchs Schlüsselloch

Eingang zum S- Bahnhof Friedenau. Friedenau ist ein Berliner Ortsteil im Bezirk Tempelhof-Schöneberg.
Eingang zum S- Bahnhof Friedenau © picture alliance / dpa / Manfred Krause
Von Helmut Böttiger · 23.07.2016
In der Fregestraße 19 in Berlin-Friedenau steht ein Haus, dass die große deutsche Geschichte in Miniaturform abbildet: Ritter Epenstein von Mauternberg lässt die Familie Heinrich Görings in der Fregestraße wohnen. Später, in den 60er-Jahren kauft Revoluzzer Hans Magnus Enzensberger das Haus.
Dies ist ein opulent, mit vielen Fotografien, Dokumenten und einem großzügigen Layout aufgemachtes Bändchen in einem bibliophilen Berliner Kleinverlag, der einen Stadtteil programmatisch in seinem Namen führt – aber es ist keineswegs kleinstädtisch und provinziell.
Die legendäre französische "Annales"-Schule, die sich der Alltagsgeschichte verschrieben hat und die Zeitläufte nicht aus der Perspektive der Throne und Kabinette verfolgt, kann sich hier noch einmal bestätigt fühlen. Es ist faszinierend, was sich einer kleinen Stadtvilla alles ablesen lässt.

Die Villa war ein Nachzügler

Berlin-Friedenau ist heute ein ruhiger, gehobener Stadtteil mitten in der Stadt und gehört zu Schöneberg, das spätestens seit David Bowie als Trendbezirk gilt. Dabei existierte Friedenau bis zur Reichsgründung 1871 gar nicht, es war eine leere Grünfläche. Der Name "Friedenau" rührt denn auch vom "ruhmreichen Frieden" nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 her, nach dem in der Hauptstadt eine erhebliche Bauspekulation einsetzte. 1886 wurde als Nachzügler eine der letzten alleinstehenden Villen mit drei Etagen in der Fregestraße 19 fertiggebaut, bevor größere Mietshäuser auch in Friedenau das Feld beherrschten.
Der Ritter Epenstein von Mauternberg, der vor allem auf der Burg Mauterndorf bei Salzburg sowie der Burg Veldenstein bei Nürnberg residiert, lässt die Familie des Reichskommissars Dr. Heinrich Göring in der Fregestraße wohnen, die vor dem gesellschaftlichen Abstieg steht. Der Ritter tritt nicht selbst als Eigentümer in Erscheinung, das gesellschaftliche Ansehen der Görings wird dadurch aufgewertet. Und das hat seinen Grund: Ritter Epenstein ist der Vater eines der Kinder von Fanny Göring, der Ehefrau des etwas abgehalfterten Diplomaten, und hält sie sich noch lange als Geliebte. Es handelt sich also um eine eigentümliche wilhelminische Ménage à trois. Historisch interessant wird das dadurch, dass auch Hermann Göring, der spätere NS-Reichsminister und Mitglied der obersten Führungsriege der Nazis, – wohl ein "legitimer" – Sohn jener Fanny ist und hier aufwächst.

Göring und Enzensberger auf engstem Raum

Doch nicht nur der spätere hohe NS-Funktionär Göring erlebte in der Fregestraße 19 seine Kindheit. Einige Jahrzehnte später kaufte der 68-er Revoluzzer Hans Magnus Enzensberger das Haus und verbrachte hier ebenfalls prägende Jahre, von 1965 bis 1979. Der Autor Christian H. Freitag, der eine Zeitlang bei Enzensberger Untermieter war, beschreibt aus erster Hand, wie das Haus in der Fregestraße Anlaufpunkt für die 68er wurde, wie hier Diskussionsrunden und Strategiesitzungen stattfanden und wie Enzensberger es schaffte, trotzdem drüberzustehen und sich nicht von einem der wechselnden revolutionären Stroßtrupps vereinnahmen zu lassen.
Das ist amüsant, spannend und lehrreich – ein Blick durchs Schlüsselloch auf die große deutsche Geschichte. Göring und Enzensberger auf engstem Raum! Und dass das Haus heute um ein Vielfaches mehr wert ist als damals, als Enzensberger es als eher entlegene Westberliner Immobilie verkaufte, dürfte ihn als Finanz-Filou wohl doch ein bisschen schmerzen.

Christian H. Freitag: Ritter, Reichsmarschall & Revoluzzer
Aus der Geschichte eines Berliner Landhauses
Mit einem Vorwort von Hans Magnus Enzensberger
edition Friedenauer Brücke, Berlin 2015
88 Seiten, 24 Euro

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