China

Zwischen Glamour und Zensur

Von Marcus Rimmele · 19.03.2014
Mit mehr als 600 Millionen Nutzern ist China die größte Internetnation weltweit. Der Kurznachrichtendienst Weibo macht Menschen berühmt und bietet Raum für Kritik. Doch die Regierung liest immer mit - und löscht unliebsame Posts.
Das ist Chen Kun - bei einem Live-Auftritt in der meist gesehenen TV-Show auf dem Planeten, der Neujahrsgala im chinesischen Staatsfernsehen. Chen Kun, 38 Jahre alt, gut aussehend, ist Schauspieler, Pop-Sänger, Herzensbrecher und vieles mehr, so auch - von einer Tierschutzgruppe ernannt - der sexyste Vegetarier Asiens. Beim Kurznachrichtendienst Sina Weibo hat Chen Kun mehr als 70 Millionen Follower. Das macht ihn nach Online-Fans zum größten Star Chinas und der ganzen Welt. Selbst Katie Perry, Justin Bieber und Barack Obama können da beim vergleichbaren Dienst Twitter nicht mithalten. In seinen kurzen Weibo-Einträgen lässt sich Chen Kun über alles Mögliche aus, zum Beispiel darüber dass ihm wegen der Hochzeit seines Bruders die Tränen kommen. Am liebsten aber gibt er sich philosophisch mit Sätzen wie:
"Wir sind die Könige unseres inneren Landes. Wir sind unsere eigenen Motivatoren."
Oder:
"Bleibe deinem Weg treu und störe nicht die Herzen der anderen!"
Die Einträge werden zuweilen hundertausendfach weitergeleitet. Chen Kun ist der berühmteste von Dutzenden Entertainment-Stars, die, im Westen gänzlich unbekannt, das chinesische Internet dominieren. Es sind Schauspieler, Sänger, Models oder auch einfach nur Prominente, bei denen nicht ganz klar ist, was sie eigentlich dazu gemacht hat. Ihr gemeinsames Instrument ist Weibo. Wer dort eine Millionenfangemeinde aufbaut und pflegt, steigert seinen Marktwert in der Unterhaltungsindustrie. Chinas Jugend ist heute konstant online und hängt an den virtuellen Lippen ihrer Idole. Ein Popstar ist immer auch ein Weibo-Star und umgekehrt.
"In den meisten entwickelten Metropolen in China interessieren sich die Jungen nicht für gesellschaftliche Fragen, sondern nur für Prominentenklatsch. Das ist eine Flucht vor den Problemen in ihrem Leben: Heiraten, Kinder bekommen, eine Wohnung finanzieren. Die Sorgen sind groß, aber man darf ja keine politischen Forderungen stellen. Also stürzen sich die Leute auf die Prominenten, um sich abzulenken. Das funktioniert in China mit großem Erfolg und wird von der Regierung unterstützt."
Zhu Dake, 57 Jahre alt, ist ein bekannter Kulturkritiker an der Shanghaier Tongji-Universität. Auch er ist ein Weibo-Star – zumindest ein ganz kleiner mit seinen 112.000 Fans. Für einen Intellektuellen ist das eine passable Zahl. Auch Zhu Dake nutzt das Instrument Weibo – nicht zu kommerziellen Zwecken, sondern um sich Gehör zu verschaffen. Seine Einträge klingen ganz anders als die der Stars und Sternchen. Etwa dieser zum Thema Bildung:
"Die Universitäten müssen abrücken von der Partei-Ideologie, der Gehirnwäsche und der Anpassung. Erste Reformschritte müssten sein: Die Auflösung des Bildungsministeriums, zweitens demokratische Wahlen der Uni-Rektoren. Drittens: Wichtige Entscheidungen der Rektoren müssen die Dozentenvertretungen passieren. Viertens: Die Dozentenvertretungen werden von allen Dozenten gewählt. Um China zu retten, müssen wir zuerst das Bildungswesen retten."
Ständiges Katz- und Mausspiel mit den Zensoren
Scharfe Kritik an Partei, Staat und Gesellschaft. Zhu Dake schreibt mal über Bildung, mal über große Weltpolitik. Seine Einträge werden gelesen, kommentiert, weitergeleitet.
"Ich kommentiere online, wann immer ich etwas sehe, das mich nachdenken oder fühlen lässt. Ich plane das nicht. Am meisten interessieren mich aktuelle Themen, zum Beispiel was in Nordkorea passiert oder wenn die Staatspresse wieder etwas Lächerliches geschrieben hat. Mein Ziel ist nicht eine große Zahl von Fans. Hätte ich es auf ein Millionenpublikum gebracht, müsste ich ein Idiot oder ein Opportunist sein, aber kein Intellektueller. Wenn du im heutigen China zum Star-Intellektuellen wirst, dann stimmt etwas nicht mit dir."
Der Schauspieler Chen Kun und der Kulturkritiker Zhu Dake – als Charaktere und öffentliche Figuren könnten sie unterschiedlicher kaum sein. Für beide ist das Internet die zentrale Plattform. China ist im Zeitraffer zur größten Internetnation der Erde geworden. Im Jahr 2005 waren gut 100 Millionen Chinesen online, heute sind es schon mehr als 600 Millionen. Jedes Jahr wächst ihre Zahl um zehn Prozent. China ist längst auch der größte Smartphonemarkt der Welt. Junge Chinesen erledigen so ziemlich alles mobil mit dem Telefon, selbst ihre Finanzangelegenheiten.
Chinas Internetkonzerne wie Alibaba oder Tencent, im Ausland wenig bekannt, doch hoch professionell und technisch ausgefeilt, bedienen mit ihren Apps und Funktionen immer mehr Lebensbereiche. Das Internet ist auch die neue Öffentlichkeit des Landes. Hier tummeln sich alle, die etwas zu sagen haben oder das zumindest meinen. Die chinesische Regierung versucht mit der Entwicklung mitzuhalten und mit ihrem gigantischen Zensurapparat die öffentliche Meinung online zu kontrollieren. Während harmlose Filmstars und Popsänger im Internet wahre Menschenmassen beeinflussen dürfen, befinden sich Kritiker wie Zhu Dake in einem ständigen Katz- und Maus-Spiel mit den Zensoren.
"Ich habe Glück. Mein Weibo-Konto wurde noch nie komplett blockiert. Meine Einträge werden nur immer wieder mal gelöscht. Manche meiner Postings können von anderen nicht gelesen werden. Man denkt erst: Ja, das ist durchgegangen. Doch dann merkt man, dass niemand Kommentare dazu schreibt. Ich habe gelernt, mich subtil auszudrücken mit Metaphern und Sarkasmus, um der Zensur zu entgehen. Leider verstehen viele Internetnutzer das nicht. Die nehmen den Sarkasmus für bare Münze, weil sie nie gelernt haben, damit umzugehen."
Aus dem sportlichen Katz- und Mausspiel kann furchtbarer Ernst werden. Online-Kritiker wie Zhu Dake leben gefährlich. Die Regierung gibt keine klare rote Linie vor, ab der sie Kritik nicht mehr toleriert. Die Grenze des Erlaubten ist beweglich. Im Sommer 2013 starteten die Behörden eine plötzliche Kampagne gegen Blogger und Online-Kritiker. Das bekannteste Opfer war der Star-Blogger Charles Xue mit 12 Millionen Internet-Fans. Er wurde verhaftet und in Sträflingskleidung im Staatsfernsehen vorgeführt. Dort bekannte er seine angeblichen Übeltaten.
Wer sogenannte "Gerüchte" im Internet verbreitet – ein schwammiger Begriff – kann für drei Jahre ins Gefängnis kommen. Das Klima ist rauer geworden und die Luft dünner für die Regierungskritiker im Internet. Auch Sina Weibo hat sich massiv verändert. Der Mikroblogdienst, erst 2009 eingeführt, galt einst als Ort der - wenn auch beschränkten - Meinungsvielfalt mit dem Zeug dazu, China zu verändern. Über Weibo wurden korrupte Beamte entdeckt und gestürzt und Umweltproteste organisiert. Doch heute ist es still geworden in der kritischen Weibo-Sphäre. Heikle Themen dringen kaum noch durch die Zensurwand hindurch, die Nutzerzahlen sinken. Kommentatoren suchen sich andere Plattformen.
Posts über Haustiere und Kosmetik – mit Smileys und Herzen
Yao Chen braucht das nicht zu kümmern. Die Schauspielerin und Sängerin zählt auf Weibo 62 Millionen Follower. Damit ist sie die Nummer zwei nach Chen Kun. Ihre Einträge laufen nicht Gefahr, bei den Zensoren allzu viel Anstoß zu erregen. Sie posted gern Fotos ihres Abendessens und schreibt dazu:
"Das Größte ist für mich im Leben, nach Hause zu kommen und eine Schüssel Reisbrei mit Pfannkuchen zu essen."
Sie äußert sich auch schon mal zum syrischen Bürgerkrieg.
"Lasst Frieden werden!"
Oder zur Messerattacke im Bahnhof von Kunming, bei der Anfang März mehr als 30 Menschen starben.
"Lasst uns die Gewalt beenden!"
Ihre Einträge sind gespickt mit vielen Icons wie betenden Händen, kleinen Herzen und weinenden Gesichtchen. Yao Chen ist ein Internet-Megastar.
"Wenn man ein Star ist, identifizieren einen die Leute zunächst mit den Filmen oder dem eigenen Aussehen. Aber mit Weibo können sie sich auch mit meiner inneren Welt identifizieren. Ein Star kann alles posten: Bilder seiner Haustiere, seiner Blumen und seiner Kosmetikprodukte. Man bekommt immer viel Aufmerksamkeit."
Yao Chen ist noch eine der inhaltsvolleren Weibo-Celebrities mit ab und zu kritischen Anklängen. Viele andere verzichten auf diese ganz. Das Model mit dem Namen Angelababy etwa. Die Weibo-Seite der Hongkongerin besteht ausschließlich aus mal süßlichen, mal betroffenen Kurzslogans oder Fotos von ihr selbst in verschiedenem Aufzug. Und natürlich aus vielen Smileys, betenden Händen und Tränen.
"Diese Prominenten kommentieren nicht das aktuelle Geschehen. Die sprechen höchstens mal über irgendetwas Wohltätiges. Selbst die drängendsten gesellschaftlichen Probleme fassen sie nicht an. In China kontrolliert die Regierung die Karriere dieser Leute. Ein falsches Wort, und ein Song oder ein Film wird im ganzen Land gestoppt."
Internet als einziger Ort für öffentliche Meinungsäußerung
Zhao Chu ist einer der wenigen, die es mit ernsten und kritischen Inhalten zu einem Millionenpublikum im Internet gebracht haben. Zhao ist ein freier Publizist für chinesische und ausländische Medien. Sein Steckenpferd ist Chinas Militär, dessen Entwicklung er laufend beobachtet und kommentiert.
"Ich bin ein Militär-Experte. Unser nationaler Verteidigungshaushalt wächst jedes Jahr im zweistelligen Prozentbereich. Warum geben wir so viel Geld dafür aus und wofür genau? Wer überprüft das? Das geht die ganze Gesellschaft etwas an. Um diese Fragen kümmere ich mich. Bei besonderen aktuellen Ereignissen steigen meine Followerzahlen auf Weibo deutlich an. Während der Krise um die Diaoyu- oder Senkaku-Inseln mit Japan habe ich in wenigen Tagen 100.000 Leute hinzugewonnen."
Das Internet, sagt Zhao, besitzt in China eine besondere Bedeutung.
"Die selbstgefällige Art der Regierung stößt auf Ablehnung in der Gesellschaft. Die Leute wollen eine vernünftigere und verlässlichere Meinung hören. Eine objektive Stimme. Darin unterscheidet sich das chinesische Internet von dem im Rest der Welt. In anderen Ländern gibt es Wahlen und so weiter, da muss man Meinungen nicht auf solchen Medienplattformen ausbreiten. Aber in China gibt es keinen anderen Ort dafür. Das hier kommt öffentlicher Meinungsäußerung am nächsten."
Auch Zhao Chu berichtet von Zensurattacken auf seine Postings, die er oft zwar noch verfassen kann, die für die Fans aber unsichtbar bleiben. Leute wie Zhao gibt es viele im chinesischen Internet. Männer und Frauen, die sich vor allem einem Thema widmen, das in den kontrollierten Staatsmedien zu kurz kommt. Das muss nicht immer regierungskritisch sein. Auch unpolitische, regierungstreue oder stramm nationalistische Kommentatoren erreichen ein Millionenpublikum.
Kein Mehr an politischer Freiheit
Und dann sind da noch die Internet-Stars, die irgendwo zwischen Entertainment und ernster Kritik anzusiedeln sind. Der berühmteste ist Han Han. Der 31-jährige Shanghaier ist einer der besten Rallye-Fahrer Chinas, aber auch Schriftsteller, Sänger, Magazinherausgeber und natürlich Blogger. Die Zahl seiner Weibo-Fans: 25 Millionen. Han Han traf viele Jahre lang den Nerv seiner Generation: witzig, stylish, urban, kritisch, aber nicht moralinsauer. Er pflegt sein Image als unabhängiger Kopf:
"Die Regierung hat doch genug Schreibende auf ihrer Seite. Die haben die Volkszeitung und das Staatsfernsehen. Sie hat all diese Medienressourcen und ihre Schoßhunde. Es gibt genug Leute, die den Job der Lobhudelei besorgen. Die brauchen mich nicht. Ich will kein Schoßhund sein. Ich gehe meinen eigenen Weg und schreibe, wie ich möchte. Das ist es, was ein Schreibender tun sollte.
Han Han veröffentlicht auf seinem Blog kritische Kommentare zum aktuellen Geschehen in China, prangerte etwa im Sommer 2011 die Vertuschungsversuche der Behörden nach dem schweren Zugunglück von Wenzhou an. Nach Zusammenstößen mit der Zensur ist er zuletzt aber deutlich ruhiger geworden und schreibt nur noch wenig.
Das Internet und seine berühmtesten Akteure haben China verändert. Das Land ist bunter, vielfältiger geworden. Unterschiedliche Meinungen sind leichter verfügbar. Doch mehr politische Freiheit hat das World Wide Web den Chinesen bislang nicht gebracht. Wie wird es weiter gehen? Zhao Chu bleibt trotz des immer engeren Griffs der Behörden optimistisch.
"Man kann gegen ein Medium vorgehen, aber nicht gegen das Bedürfnis der Menschen nach öffentlicher Meinungsäußerung und Einfluss auf politische Entscheidungen. Sobald neue Technologien auftauchen, wird die Gesellschaft dann diese dafür nutzen. Deshalb bin ich optimistisch, trotz der jüngsten Repressionen im Internet. Wenn alle Wege der Meinungsäußerung versperrt sind, wird die Stimme auf die Straße wandern. Das haben wir in Russland, Libyen oder Ägypten gesehen. Deswegen bin ich optimistisch."
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