Chico Buarque

Auf der Suche nach dem deutschen Bruder

Der brasilianische Musiker und Sänger Chico Buarque bei einem Konzert 2006
Der brasilianische Musiker und Sänger Chico Buarque bei einem Konzert 2006 © dpa / picture alliance / Brainpix Pontes
Von Victoria Eglau · 24.02.2016
Der Brasilianer Chico Buarque ist ein berühmter Bossa-Nova-Musiker und Schriftsteller. Ein altes Familiengeheimnis beschäftigt ihn in seinem Roman "Mein deutscher Bruder" – die Spur führt in die DDR, wo auch sein ferner Halbbruder zum Sänger wurde.
Brasilien, 1966: Dem jungen Musiker Chico Buarque de Holanda gelingt mit dem Hit "A Banda" der Durchbruch. Während Chico Buarque zu einem der wichtigsten Vertreter der Samba- und Bossa Nova-Szene heranwächst, bleibt in seiner Familie ein Geheimnis gut gehütet: die Existenz eines deutschen Halbbruders von Chico und seinen Geschwistern. Denn bevor der Vater Sergio Buarque de Holanda in Brasilien eine Familie gründete, unterhielt er als junger Journalist in Berlin eine Beziehung zu einer Deutschen – und die bekam von ihm 1930 einen Sohn.
Ein Brief jener Anne Ernst, den Chico Buarque in einem Buch der väterlichen Bibliothek findet, weckt in ihm eine Sehnsucht nach dem unbekannten deutschen Bruder, die ihn nicht mehr loslässt:
"Eines Abends platzte ich mitten beim Essen ohne Vorwarnung heraus: Ich würde mich für einen deutschen Sohn nicht schämen. Mein Vater erstarrte mit der Gabel vor dem Mund, während mein Bruder im Playboy neben seinem Teller weiterblätterte. Nur Mama, sekundenlang sprachlos, äußerte sich: Aber wer schämt sich denn für einen deutschen Sohn, Ciccio?"
In dem Roman "Mein deutscher Bruder" – aus dem der Autor hier vorliest – wird Chico zu Ciccio, und statt sechs Geschwister, wie im wirklichen Leben, hat Chico Buarques Alter Ego nur einen Bruder. Und dieser brasilianische Bruder ist ihm so verhasst, dass die Suche nach dem deutschen Halbbruder für den Romanhelden und Ich-Erzähler Ciccio eine existenzielle Bedeutung annimmt:
"Ich habe niemals erlebt, dass meine Mutter ziellos in die Gegend starrte, ich glaube, auch wenn sie schlief, rollte sie die Augen. So wie sie die Familie überwachte, bin ich sicher, dass sie über meinen deutschen Bruder mehr wusste als mein Vater. Doch schien es mir nutzlos zu versuchen, ihr ein Geheimnis zu entlocken, so wie ich eines Tages vergeblich versucht hatte, die Schublade ihres Nachttischs aufzubrechen, in der sie meiner Vermutung nach für sie schmerzliche Reliquien aufbewahrte."

Das Schweigen des Vaters

Mit der Zeit stößt Ciccio jedoch auf ein paar aufschlussreiche Dokumente – und das passiert nicht nur im Roman, sondern entspricht der Realität: Chico Buarque erfuhr durch die Korrespondenz seines verstorbenen Vaters mit deutschen Behörden, dass die ledige Mutter das Kind zur Adoption freigegeben hatte. Briefe von Sergio Buarque de Holanda, in denen der Historiker anbot, seinen Sohn nach Brasilien zu holen, blieben unbeantwortet.
Stattdessen wurde er von Beamten des NS-Staats aufgefordert, seine arische Herkunft nachzuweisen. Irgendwann kamen keine Nachrichten mehr aus Deutschland, es blieb die Ungewissheit. Und das Schweigen des Vaters gegenüber seiner brasilianischen Familie.
Dass Chico Buarque in "Mein deutscher Bruder" autobiografische mit fiktiven Elementen vermengt, hat ihm wohl die nötige Distanz verschafft, um ein Buch über das Tabu-Thema seiner Familie zu schreiben. Etwa hat die Mutter des Romanhelden, eine italienischstämmige Hausfrau, kaum etwas zu tun mit der Mutter des Autors, einer Künstlerin.
Mit seinem zuweilen irritierend leichten, ironischen Tonfall scheint der Autor dem persönlich aufwühlenden Thema Dramatik nehmen zu wollen. In dem erfundenen Teil der Romanhandlung spielt die Diktatur eine große Rolle, die in Brasilien von 1964 bis '85 herrschte. Zwar besteht auf den ersten Blick kein Zusammenhang zur Suche nach dem Halbbruder, aber Buarque, der als Musiker gegen das Militärregime ansang, schlägt damit einen Bogen zu den deutschen Diktaturen. Jenen, in denen Sergio Günther lebte.
Den Namen des Bruders wird Chico Buarque mit fast 70 erfahren, ebenso wie Ciccio, sein Alter Ego im Roman. Sergio Günther wurde in der DDR erwachsen, arbeitete als Entertainer beim Fernsehen und starb 1981 – manche werden sich noch an ihn erinnern. Die singenden Halbbrüder sind sich nie begegnet, doch konnte sich die brasilianische Musiklegende zumindest Günthers Tonaufnahmen anhören.
"Die Stimme, die ich jetzt höre, ist die Stimme meines Vaters, aber zu meiner Beruhigung ist es nicht eine, wie nennt man das, Grabesstimme aus dem Jenseits, es ist seine noch klare Stimme aus der Zeit meiner Kindheit."

Chico Buarque: Mein deutscher Bruder. Roman
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016
256 Seiten, 19,99 Euro

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