Charismatisch und polarisierend

Von Uwe Friedrich · 10.01.2013
Simon Rattle hat bei den Berliner Philharmonikern für einen Modernisierungs- und Verjüngungsschub gesorgt - dennoch war er nie unumstritten. Wenn das Orchester wagemutig ist, sucht es nun einen Nachfolger, der den Weg ins 21. Jahrhundert weiter beschreitet, kommentiert Uwe Friedrich.
Völlig unerwartet kommt die Ankündigung von Simon Rattle nicht, dass er nur noch seinen derzeit gültigen Vertrag erfüllen wird und danach die Berliner Philharmoniker verlässt. Schon die letzten Vertragsverhandlungen über die Verlängerung seines Vertrags bis 2018 hatten sich vor knapp fünf Jahren hingezogen. Der Chefdirigent wurde vom Orchester gedemütigt, deutlich ließen die Musiker ihn ihre Unzufriedenheit spüren. Schon bei der Entscheidung für Rattle als Nachfolger Claudio Abbados ging ein Riss durch das Orchester, und der hat sich bis heute nicht geschlossen.

Rattle polarisiert. Auch im Publikum gilt er den einen als charismatischer Orchesterleiter neuen Typs, der die verstaubten Philharmoniker ins 21. Jahrhundert geführt hat, den anderen als Scharlatan, der den angeblich ach so deutschen Klang des Eliteorchesters auf dem Gewissen hat. Beides ist in der Vereinfachung falsch, an beidem ist aber auch etwas dran. Zweifellos hat Rattle bei den Berliner Philharmonikern für einen Modernisierungs- und Verjüngungsschub gesorgt. Er hat die Umwandlung in die Rechtsform einer Stiftung betrieben, vor allem hat er die großartigen Jugendprojekte angeschoben, für die das Orchester zu Recht in aller Welt gelobt wird. Auch die Repertoireerweiterung um englische, französische und Barockmusik geht auf sein Konto.

Dabei hat sich der vieldiskutierte Klang des Orchesters zweifellos geändert, das war offenbar gewollt. Rattles Konzerte klingen bei aller Präzision oft laut, oberflächenpoliert und uncharmant. Genau hier setzt die Kritik an Rattle an, denn nach eigenem Bekunden fand er nur schwer einen Interpretationszugang beispielsweise zu den Brahms-Symphonien, zu jenen Werken also, die aus mehr bestehen als musikalischen Effekten. Um es ganz platt zu sagen: Rattles Haydn-Symphonien sind unübertroffen, Schönbergs "Gurrelieder", Janaceks "Glagolithische Musik" oder Schostakowitschs Symphonien sind es definitiv nicht.

Nach dann 16 Jahren wird Simon Rattle also die Berliner Philharmoniker verlassen und der Orchestervorstand spricht in seiner Pressemeldung von gegenseitiger Sympathie und respektvollem Umgang. Schock und tiefstes Bedauern klingen anders. Nun werden die Musiker also den Blick in die Zukunft richten und einen Nachfolger suchen. Viele Namen kommen einem auf Anhieb nicht in den Sinn für diesen Posten. Die so genannten Großen, beispielsweise Kent Nagano, Myung-Whun Chung, Valery Gergiev, sind in fünf Jahren sicher zu alt, um für einen Aufbruch zu stehen. Die Mittelalten, etwa Ingo Metzmacher, Franz Welser-Möst oder Semyon Bychkov sind schon anderswo gescheitert und haben wohl keine Chancen.

Wenn das Orchester aber wagemutig ist, dann gibt es unter den dann Mitt- bis Endvierzigern einige aufregende Kandidaten. Der älteste wäre Kirill Petrenko, Jahrgang 1972, ab kommender Spielzeit Chefdirigent der Bayerischen Staatsoper und in diesem Sommer bei den Bayreuther Festspielen zuständig für den Nibelungen-Ring, bislang vor allem ein Opernmann, aber auch auf dem Konzertpodium sehr erfolgreich. Drei Jahre jünger ist der Kanadier Yannick Nézet-Séguin, Chef des renommierten Philadelphia Orchestra und somit bereits an einer prestigeträchtigen Adresse angelangt. Der jüngste ist Pablo Heras-Casado, 1977 in Spanien zur Welt gekommen, in Kennerkreisen hoch gehandelt und zweifellos auch mit dem Potential die Philharmoniker herauszufordern. Nun liegt es an den 128 Orchestermitgliedern, wie viel Risiko sie eingehen wollen, um den Weg ins 21. Jahrhundert weiter zu beschreiten. Mit Simon Rattle will das Orchester auch nach 2018 zusammenarbeiten. Die Fans müssen also nicht allzu traurig sein.
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