Calvin und der Widerstand

Seyran Ates im Gespräch mit Ita Niehaus · 02.05.2009
Für die Anwältin, Autorin und Frauenrechtlerin Seyran Ateş ist die Lehre des Reformators Calvin zumindest in einigen Punkten noch aktuell: "Ich stimme Calvin auf jeden Fall in dem Punkt zu, dass wir Unterdrückung nicht hinnehmen dürfen. Wir dürfen nicht die Einengung oder die Freiheit zum eigenen Denken akzeptieren", sagte Ateş.
Ita Niehaus: Was hat uns der Reformator Johannes Calvin 500 Jahre nach seiner Geburt heute noch zu sagen? Was aus seiner Lehre oder auch aus seinem Leben ist im 21. Jahrhundert noch aktuell? Das ist das Thema einer Reihe von Streitgesprächen im Rahmen der Calvin-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin. In dieser Woche ging es um das Thema Widerstand. An diesem Streitgespräch nahm auch Seyran Ateş teil, Anwältin, Autorin, mutige Frauenrechtlerin und scharfe Kritikerin der sogenannten Multikulti-Gesellschaft. Nach der Diskussion hatte ich Gelegenheit, mit Seyran Ateş über das Thema "Calvin und der Widerstand" zu sprechen. Seyran Ateş hat sich schon als Mädchen gewehrt gegen Kopftuch und Zwangsheirat, hat Abitur gemacht, studiert und ist immer große Risiken eingegangen als Frauenrechtlerin. Sie wurde nicht nur beleidigt, sonder auch tätlich angegriffen. Als Erstes wollte ich von ihr wissen, ob sie sich als Widerständlerin sieht.

Seyran Ateş: Im Grunde schon, ja. Ich muss viel Widerstand leisten, ich habe sehr viel Widerstand in meiner Kindheit, Jugend leisten müssen gegen meine Familie, was dann auch der Grund dafür war, dass ich aus der Familie ausgebrochen bin, abgehauen bin, und im Grunde genommen, in meiner gesamten politischen Arbeit stoße ich auf Widerstand, auf vielen Ebenen.

Niehaus: Der Reformator Calvin hat ein Recht auf Widerstand, sogar eine Pflicht zum Widerstand vertreten, und zwar dann, wenn Fürsten, ob weltlich oder kirchlich, die Glaubensfreiheit gewaltsam einschränken und unterdrücken. Sind Sie in diesem Sinne eine Calvinistin?

Ateş: In diesem Sinne, wenn man das ganz streng nimmt, wahrscheinlich dann schon. Ich setze mich ebenfalls für die Religionsfreiheit ein, damit eben auch für die Glaubensfreiheit, und zwar auch innerhalb der Religionsgemeinschaft, der ich zugehöre. Und ganz sicher bin ich mit ihm einer Meinung, wenn es darum geht, auch eine Pflicht zum Widerstand zu haben. Ich denke, das ist nicht nur eine moralische Pflicht, sondern eben auch eine politische, zivilbürgerliche Pflicht. Wir sind in einer Zivilgesellschaft, wir leben in einer Zivilgesellschaft, und ich bin der Überzeugung, dass es zu unseren Aufgaben gehört, gegen die Machthabenden, gegen die Herrscher der heutigen Zeit auch Widerstand zu leisten. Nun, ob ich mit seinen Lehren übereinstimme, das ist ja eine andere Sache, deshalb wäre ich da sehr vorsichtig zu sagen, ich bin Calvinistin oder bin mit den Lehren einverstanden. Bin ich nicht. Ich denke, es gibt einiges zu kritisieren, und auch er war ja meiner Ansicht nach, aus dem, was ich aus dem Wenigen, was ich über ihn gelesen habe – ich bin keine Expertin –, war er auch eher sein dogmatisch und auch sehr herrisch. Also er war auch in seiner Lehre und seinen Gegnern gegenüber unerbittlich. Und das ist etwas, was mich auf keinen Fall zu einer Calvinistin macht.

Niehaus: Was heißt also für Sie genau Widerstand? Wo und wann muss man widerstehen?

Ateş: Ich stimme dem Calvin auf jeden Fall in dem Punkt zu, dass wir Unterdrückung nicht hinnehmen dürfen. Wir dürfen nicht die Einengung oder die Freiheit zum eigenen Denken akzeptieren. Da gehört Widerstand auf jeden Fall hin. Sobald Individuen von einer Obrigkeit in der Form unterdrückt werden, dass ihnen das Denken vorgeschrieben wird und auch der Glaube vorgeschrieben wird, dass das Verhältnis zwischen dem Herrgott und dem Einzelnen so geregelt wird, dass der Einzelne keinerlei Macht mehr über sich selbst hat und seinen Glauben, keinen eigenen Zugang dazu hat und da auch nicht kreativ sein kann, da müssen wir Widerstand leisten gegen Obrigkeiten, Institutionen, die sich anmaßen, [sich] zwischen Gott und den einzelnen Menschen zu stellen.

Niehaus: Wenn Sie widerstehen, tun Sie das ja auch im Namen der Freiheit.

Ateş: Absolut, ja.

Niehaus: Mit einem modernen Freiheitsbegriff hatte Calvin nicht viel im Sinn, persönliche Freiheit wurde vor 500 Jahren eher als Bindungslosigkeit empfunden, als Gottferne. Wie gehen Freiheit und religiöse Bindung zusammen?

Ateş: Es ist ganz schwierig mit diesen alten Herren, auch wie mit Luther oder Jesus oder Mohammed und auch Calvin, das sind ja alles Herren. Das muss man sich erst mal auch vergegenwärtigen, dass wir eine sehr männlich dominierte Ideologie vor uns haben oder männlich dominierte Widerstandskämpfer. Die Französische Revolution war auch getragen von Männern, die auch für Freiheit sich eingesetzt haben, aber auch die hatten ja einen Freiheitsbegriff, der nicht unbedingt alle Menschen umfasste. Frauen wurden dort ganz anders betrachtet. Und bei Herrn Calvin sah das ja auch nicht anders aus, die Geschlechterverhältnisse, aber das ist jetzt ein anderes Thema, ich will nicht vom Thema abkommen. Die Freiheit war vor 500 Jahren, zu Lebzeiten der einzelnen Propheten und auch Jesus, ganz anders betrachtet. Wir müssen all das unserer Zeit entsprechend auslegen und uns auch die Fragen stellen, was würden diese Herren heute tun. Würden sie heute sich tatsächlich auch der Idee ergeben, dass zu viel Freiheit Bindungslosigkeit bedeutet? Und meine Antwort dazu wäre: Nein.

Niehaus: Glauben Sie, dass Calvin seinen Freiheitsbegriff, also den modernen Freiheitsbegriff …

Ateş: Verehrt hätte, ja. Ich bin wirklich der Überzeugung, ja, ich glaube schon. Denn zu seinen Lebzeiten waren die Realitäten andere, waren die Realitäten tatsächlich andere. Und man muss die Menschen auch immer in ihrer Zeit sehen. Er hat seine Gegner auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen, er hat dazu beigetragen, dass seine Gegner tatsächlich vernichtet, zerstört wurden. Das kann man kritisieren und sagen, also so ein Mensch ist unerträglich, ich würde mich niemals seiner Lehre anhängen. Aber wer hat das in der Zeit nicht getan?

Niehaus: Nun mussten sich alle Reformatoren, ob Luther oder Calvin, gegen mächtige Gegner, gegen Könige in Frankreich, Fürsten, die katholische Kirche durchsetzen, um ihre Vorstellungen vom Glauben leben zu können. Sie bezeichnen sich als säkulare Muslimin, machen sich stark für die Reform des Islams. Ist Calvin vielleicht da doch ein Vorbild auch für die islamischen Reformer?

Ateş: Für mich sind alle Widerstandskämpfer der Menschheitsgeschichte Vorbilder. So wie es Luther ist, so ist es auch Calvin. Das liegt in der Tatsache begründet, dass er, wie Sie gerade auch beschrieben haben, zu denjenigen gehört, die gesagt haben, das, was uns vorgesetzt wird an Vorgaben, was den Glauben anbelangt und was unsere Religionsgemeinschaft anbelangt, das ist ungerecht. Man hat ja auch damals schon viel mit diesen Begriffen gearbeitet, Gerechtigkeit, auch Gleichberechtigung für arme Menschen gesucht. Also die Tatsache, dass es Menschen gab, die in Hülle und Fülle und in Luxus gelebt haben, und andere Menschen sind an Armut gestorben, sie sind verhungert, das hat zu einem Gerechtigkeitssinn geführt, denke ich, auch bei Herrn Calvin, der den Luxus auch verschmäht hat. Das sind sympathische Punkte, sympathische Ansätze. Umgesetzt in unsere Zeit wäre er ganz sicher auch ein Freiheitskämpfer.

Niehaus: Sie haben ja einmal in einem Interview gesagt, der Islam brauche einen Luther. Warum haben Sie gesagt Luther und nicht Calvin?

Ateş: Warum habe ich Luther gesagt? Weil der Luther viel präsenter ist in der europäischen Geschichte, in der Geschichte der Religionsgemeinschaften, in Europa überhaupt, und er derjenige war, der dazu beigetragen hat, dass die Urschrift, die lateinische Schrift, überhaupt erst mal kritisch betrachtet wurde und eine Übersetzung vorgenommen hat und zu Reformen beigetragen hat, die tatsächlich auch die verschiedenen Ausrichtungen im Christentum letztendlich dann überhaupt in die Wege geleitet haben. Und er steht viel mehr für die Reformation, der Luther, als Calvin. Was nicht bedeutet, dass ich jetzt Calvin nicht nehmen würde auch als Vorbild, denn auch er hat dazu beigetragen, dass sich was verändert hat. Es sind die Veränderungsprozesse, die notwendig sind. Im Islam benötigen wir solche Denker, in verschiedenste Richtungen. Er war kein Anhänger Luthers, er hat selbst einen Weg gefunden, und so was finde ich sympathisch. Ich finde das einfach sympathisch, wenn innerhalb der Religionsgemeinschaft die Menschen sich die Freiheit nehmen, auch selbst zu denken und die Religion weiterzuentwickeln und vielleicht eben auch in verschiedene Richtungen entwickeln. Was heißt vielleicht, ganz sicher in verschiedene Richtungen entwickeln. Aber sie auch zeitgemäß auslegen und untermauern auch mit politischen Aktivitäten, das finde ich sehr sympathisch. Und da nimmt er sich natürlich nicht viel von Luther.

Niehaus: Was können also die islamischen Reformer konkret von Calvin lernen heute?

Ateş: Dass man kritisch mit der Religion umgeht, das können sie lernen, auf jeden Fall. Dass Machthaber nicht automatisch Rechthaber sind, dass sie diejenigen sind, die Rechte besitzen ausschließlich und auch recht haben in dem, was sie verkünden, das kann man auf jeden Fall von Calvin lernen. Dass man den Mut hat, auch Widerstand zu leisten. Und er hat ja auch Widerstand geleistet unter Gefahrsetzung seines eigenen Leibs und Lebens. Also hochachtungswert ist, dass es wichtig ist, innerhalb der Religionsgemeinschaft Diskussionen anzuregen, Kritik zu üben und auch den Mut zu haben, etwas infrage zu stellen, etwas ganz Grundsätzliches und vermeintlich Unerschütterbares infrage zu stellen. Das hat er ja auch getan. Er hat ja unerschütterbare Vorgaben der katholischen Kirche infrage gestellt, und das ist sympathisch.

Niehaus: Der Reformator Calvin und seine Widerstandslehre. Das war die Anwältin, Frauenrechtlerin und Autorin Seyran Ateş. Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Ateş: Vielen Dank!

Niehaus: Die Reihe der Streitgespräche "Was tun, Herr Calvin?" wird übrigens fortgesetzt. Das nächste findet am 6. Mai um 18 Uhr im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums in Berlin statt, und zwar zum Thema Bilderstreit.