Bürokratie

Selbstunwirksamkeit oder die Ohnmacht im Alltag

Wartenummernanzeigen und Wartenummernausgabeautomaten
Kein schöner Anblick: Wartenummernanzeigen und Wartenummernausgabeautomaten. © imago/Cord
Von Astrid Friesen · 08.12.2016
Woher kommt diese Wut, die uns nicht nur in den Internetforen und auf Demonstrationen, sondern auch im Alltag begegnet? Das psychologische Konzept der Selbstwirksamkeit bietet da Erklärungsansätze, sagt die Pädagogin und Psychotherapeutin Astrid von Friesen.
Sir Michael Marmot hatte in den 1980er-Jahren die berühmten Whitehall-Studien durchgeführt, d.h. große Reihenuntersuchungen zur Gesundheit von britischen Beamten. Eines der wichtigsten Ergebnisse war, dass Kontrolle über das eigene Leben großen Einfluss auf die Gesundheit im Alter bzw. die Lebenserwartung habe. Wenn Menschen Eigenes gestalten, eigene Entscheidungen treffen und sich im Alltag kompetent fühlen können, erleben sie sich als selbstwirksam, was ihre Widerstandkräfte potenziert.
Selbstwirksamkeit, ein Begriff des kanadischen Psychologen Albert Bandura aus den 1970er-Jahren, beschreibt, ob Menschen aufgrund eigener Kompetenz erwünschte Handlungen selbst ausführen können, was positive Gefühle, Selbstbewusstsein, weniger Angst und Depressionen nach sich zieht. Selbstunwirksamkeit kann dagegen zu Ohnmachtsgefühlen, Verbitterung, diffuser Wut führen, wirkt also demoralisierend. Und Badura beschrieb bereits vor 40 Jahren, dass Bürokratien dies enorm verstärken!

Ohnmachtserlebnisse beim Kontakt mit Institutionen

Immer stärker erlebt jeder von uns diese negativen Gefühle besonders im Kontakt mit staatlichen, ehemals staatlichen oder anderen Großinstitutionen. Fast jeder kennt die Ohnmacht angesichts von 25 Formularseiten der Steuerklärung oder wenn man nach einem verloren gegangenen Paket forscht! Oder wenn das Sozialamt nur telefonische Sprechzeiten an zwei Tagen zwischen 9 und 11 Uhr anbietet, man jedoch zu der Zeit garantiert nicht privat telefonieren kann.
Und dann Telefongesellschaften! Z.B. bei einer angeblich einfachen Ummeldung kann es Wochen dauern und Friseure oder Ärzte nahezu in den Ruin treiben! Oder: Bei einer Störung sieben Mal – nach sieben Stunden in der Warteschleife – von den Callcentern sieben unterschiedliche Antworten erhalten plus der Aufforderung, in der 45 Minuten entfernten Stadt sich erst einen neuen Router, dann einen neuen Splitter zu kaufen, was 150 Euro kostet und trotzdem nicht hilft.
Die emotionale Lage: Ohnmacht und Wut, die jedoch nicht abgeführt werden können, weil niemand greifbar ist. Frage: Wie fühlen sich besonders diejenigen, die eine demütigende, nicht erfolgreiche Schulkarriere hinter sich haben und sowieso denken, für all diese bürokratisch-technischen Anforderungen zu dumm zu sein?

Selbstunwirksamkeit provoziert blinden Zorn und Hass

Viele Wut-Bürger sind umgetrieben von den Gefühlen des Nichts-verändern-Könnens. Auch sie können nichts tun, um in Sachsen oder im Ruhrgebiet das Weggehen der eigenen Kinder zu verhindern bzw. den Verlust von Ärzten, Schulen, Apotheken und Bankfilialen in ihrer Nähe. Doch aktive Bürgermeister, die erstaunliche, witzige Ideen zur verstärkter Partizipation am Gemeinwesen durchzusetzen versuchen, werden von dem Krebsgeschwür Bürokratie erstickt, welches Lebendigkeit tötet. Selbstunwirksamkeit auf vielen Ebenen und bei vielen Beteiligten provoziert blinden Zorn und Hass!
Und man fragt sich, ob sich in der Bürokratie nicht auch die Ohnmacht und Hilflosigkeit der Politiker spiegelt, weil scheinbar oder tatsächliche keine oder nur geringe Handlungsmöglichkeiten und Spielräume besitzen angesichts von Weltkonzernen, global agierenden Banken und sozialen Medien. Diese täglichen Frustrationen, Hilflosigkeiten, dieses Ausgeliefertseins an unsichtbare, nicht zu kontrollierende Mächte und die Selbstunwirksamkeitsgefühle zerstören allmählich unser Gemeinwesen!

Astrid von Friesen ist Diplom-Pädagogin, Gestalt-, Trauma- und Paar-Therapeutin in Dresden, sie unterrichtet an der TU Freiberg, und macht Lehrerfortbildung und Supervision.





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