Bücherjäger in der Klosterbibliothek

26.04.2012
Einem Mann, der im 15. Jahrhundert auf ein Buch stößt, das den Vorstellungen eines Schöpfers widerspricht, widmet der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Jay Greenblatt sein Werk "Die Wende". Er wurde dafür mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet.
Von Sandro Botticellis Bild "La Primavera" ("Der Frühling") – entstanden zwischen 1485 und 1487 – weiß man, das eine "motivische Hauptquelle" zu Lukrez' Gedicht "De rerum natura" ("Von der Natur") führt. Darin heißt es: "Frühling kommt und Venus, und ihnen voraus sind Venus' geflügelter Bote und Mutter Flora, auf den Versen folgt ihnen Zephyr, und sie bereiten der Göttin den Weg, verbreiten mit den Blumen herrliche Wohlgerüche." Das hört sich an, als hätte Lukrez Botticellis Gemälde beschrieben. Doch dieses außerordentliche Prosagedicht wurde bereits 50 Jahre vor unserer Zeitrechnung geschrieben. Botticelli muss also Lukrez' Buch gekannt haben, zumindest war er mit seinen zentralen Ideen vertraut.

Selbstverständlich war das nicht. Stephen Greenblatt, der Pulitzerpreisträger des Jahres 2012, erzählt in "Die Wende. Wie die Renaissance entstand" die spannende Geschichte von Lukrez' Buch "De rerum natura". Denn wenn wir heute wie selbstverständlich von der Rezeption des Buches und seiner Wirkung auf Sandro Botticelli, Giordano Bruno, Thomas Morus oder William Shakespeare sprechen, dann wissen wir kaum etwas über die wechselvolle Geschichte des Buches, dass erst 1417 von Poggio Bracciolini wiederentdeckt wurde.

Bis dahin kannte nur ein kleiner Kreis von Mönchen "Von der Natur". Poggio – so vertraut, nämlich per Du – ist Greenblatt im Umgang mit seiner zentralen Figur, hat die Schrift wahrscheinlich in einem Kloster bei Fulda entdeckt. Lukrez vertritt in dem Buch die Ansicht, dass sich alles Seiende aus unsichtbaren Teilchen zusammensetzt; er zählt zur philosophischen Schule der Atomisten. Damit widersprach er der Vorstellung von einem nach den Bauplänen eines Schöpfers eingerichteten Universum. Lukrez glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod, und auch die Ansicht von der Unsterblichkeit der Seele fand er abwegig. Keine Ansichten, mit denen man sich Freunde bei der katholischen Kirche machte, weshalb auch über Jahrhunderte nichts dafür getan wurde, das Buch zu veröffentlichen. Die Entdeckung dieser wegweisenden Schrift ist einem "Bücherjäger" zu verdanken.

Stephen Greenblatt tritt zusammen mit Poggio Bracciolini eine spannende, äußerst abwechslungsreiche Reise an, die viel zum Verständnis der kulturellen Landschaft des 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts beiträgt. Zugleich macht Greenblatt aber auch deutlich, was der mit der Renaissance einhergehende "kulturelle Umbruch" für die Gegenwart darstellt. Mit dem Anbruch der Renaissance wurden jene Kräfte freigesetzt, die unser heutiges Weltbild in der Wissenschaft (da Vinci), in der Astronomie (Galilei) und in der Kunst (Botticelli, Michelangelo) entscheidend mitgeprägt haben.

Für Greenblatt ist Poggio ein Entdecker, dessen kulturelle Leistung den Vergleich mit den Seefahrern nicht scheuen muss, die auf der Suche nach neuen Kontinenten die Weltmeere befuhren. Poggio brachte von einer seiner Expeditionen ein Buch mit, das, so Greenblatts Überzeugung, ein Meilenstein in der Geschichte jener Periode darstellt, die wir Renaissance nennen. Was Poggio auf seinen abenteuerlichen Fahrten zu abgelegenen Klöstern erlebte, die er in der Hoffnung aufsuchte, dort antike Bücher zu finden, um sie zu kopieren, darüber weiß Greenblatt sehr anschaulich und überaus spannend zu erzählen. Kein Buch, das sich nur an Spezialisten wendet.

Greenblatts Buch ist eine Einladung an all jene, die sich gern auf eine Exkursion begeben, bei der verschiedene Jahrhunderte mit konzentriertem Blick in Augenschein genommen werden.

Besprochen von Michael Opitz

Stephen Greenblatt, Die Wende. Wie die Renaissance begann,
aus dem Englischen von Klaus Binder, Siedler Verlag, München 2012, 331 Seiten, 24,99 Euro.