Buddhismus

Durch Meditation zum Mitgefühl

Eine Frau meditiert vor einem Sonnenuntergang.
"Der Wesen sind unendlich viele, ich gelobe sie alle zu retten", heißt es im Bodhisattva-Gelübde. © imago/stock&people/UIG
15.01.2017
Das Mitgefühl ist ein zentraler Pfeiler des Buddhismus. Alles Leben verursacht auch Leiden, so die Erkenntnis. Bestimmte Meditationsübungen sollen das Mitgefühl stärken, Hilflosigkeit und Verzweiflung mildern.
"Seit drei, vier, fünf Jahren ist Mitgefühl in. Vorher war Achtsamkeit die absolute Nummer eins. Das ist es immer noch. Aber heutzutage wird ganz viel über Mitgefühl, aber auch über Selbstmitgefühl geredet, weil so viele Leute unter Stress stehen, unter Druck stehen, sehr angespannt sind. Und ich denke, da setzt dann dieser Vorschlag mit dem Selbstmitgefühl an", sagt Sylvia Wetzel. Die Buddhistin unterrichtet seit mehr als drei Jahrzehnten Meditation. Auch sie praktiziert die Übung "Tonglen", die Mitgefühl kultivieren soll. Das tibetische Wort Tonglen steht für "Geben und Nehmen".
"Eigentlich ist Tonglen eine Einstellungsgeschichte – das bedeutet nicht sofort, dass man helfen kann", erklärt Wetzel. "Sondern ich versuche, mich nicht abzuschotten gegen Leid." Dafür sei die Übung eine große Hilfe. "Wenn ich sehe, dass du leidest, an irgendwas, an Kopfschmerzen, Verzweiflung, an einer schweren Krankheit, ja? Dann nehme ich dir dein Leiden ab mit dem Einatmen und schenke dir mit dem Ausatmen das Glück, was ich denke, was für dich jetzt relevant ist."

Man atmet Leid ein und sendet Mitgefühl aus

Der Bonner Meditationslehrer Yesche Udo Regel praktiziert Tonglen ebenfalls schon seit Jahrzehnten und hat ein Buch darüber geschrieben. Wenn er die Übung anleitet, klingt das so: "Die traditionelle Anleitung schlägt vor, dass wir diese Lichtquelle, diesen Buddha, dieses Mitgefühlswesen oder Symbol auf der Höhe unseres Herzens sehen können. Wer mag, kann da auch mal eine Handfläche hinlegen, um mit diesem Herzensbereich, dem Herzchakra entsprechend in der Mitte des Oberkörpers Kontakt aufzunehmen."
Die buddhistische Meditation arbeitet mit der Kraft der Selbstsuggestion. "Und dann lassen wir in diesem Raum, der aufscheint und aufblitzt, aus dieser Präsenz heraus etwas in uns entstehen", sagt Yesche Udo Regel. "Von dem wir uns sagen können: Das ist die Quelle von Herzensgüte und Mitgefühl." Die Übung wird schließlich mit einem Bild an den Atem gekoppelt. Man atmet Leid ein und sendet Mitgefühl und Wohlwollen aus. Dabei kann man Mitgefühl sowohl für sich, als auch für andere entwickeln.
Es gehe nicht immer gleich um Helfen, um Heilen, sagt Regel, sondern auch ums Dabei-Bleiben: "Also überhaupt eine Verbindung herstellen und dann mit dem, was da als schwierig erlebt wird, auch zusammen sein." Man müsse nicht denken, dass die Übung wie eine Heilmeditation wirke, durch die man direkt eine Lösung fände oder das Leid wegzaubere.
Die buddhistische Technik soll für das Leiden anderer öffnen. Besonders, wenn das Leiden anderer anfängt zu stören, sodass man sich abschottet, obwohl man das eigentlich nicht will; zum Beispiel, wenn man sich von Bettlern genervt fühlt, erklärt Sylvia Wetzel: Sie würde sich in der nächsten Meditation die Situation noch einmal in Ruhe vor Augen führen. "Und dann: Ich nehme dir dein Leiden, deine Verzweiflung, deine Angst, deine Unsicherheit, dein kaputtes Leben, das nehme ich dir ab und schenke dir Zuversicht. Und allein beim Überlegen, was schenk ich dir – ich schenk dir nicht nur Geld, sondern immer auch Zuversicht, ein positiver Blick auf die Welt, vielleicht kann ich doch eine Arbeit finden. In diese Richtung gehe ich und arbeite dann an meiner Haltung. Und dafür ist Tonglen eigentlich die Idee."

Den eigenen Schmerz nicht ignorieren

Diese Mitgefühls-Meditation aus der tibetisch-buddhistischen Tradition kann man auf eigene oder fremde Nöte anwenden. "Und die Idee ist: Ich lerne, mich nicht dagegen zu wehren, denn Druck erzeugt Gegendruck. Wenn ich meine Schmerzen ignorieren will, dann sind sie ja größer. Und wenn ich mich dafür öffne, dann gibt es manchmal sogar eine subjektive Verringerung von Leiden – weil ich mich nicht dagegen wehre. Das ist eigentlich die Grundidee bei Tonglen, die eigene Angst vor Leiden zu erkennen und zu reduzieren."
Alle buddhistischen Traditionen streben an, Leid zu erkennen und zu tilgen. Im Theravada gibt es die Metta-Meditation, in der liebende Güte entwickelt werden soll. Und im Zen wird das sogenannte Bodhisattva-Gelübde rezitiert.
Um ein Buddha zu werden, begibt man sich auf den Weg als werdender Buddha - dafür steht der Begriff Bodhisattva. Als Bodhisattva lebt man nicht nur für die eigene Erlösung, sondern man kümmert sich um die Erlösung aller Wesen – eben aus Mitgefühl, wie es im Bodhisattva-Gelübde festgehalten ist: "Der Wesen sind unendlich viele, ich gelobe sie alle zu retten. Die Leidenschaften sind unerschöpflich, ich gelobe sie alle zu überwinden", heißt es hier – und weiter: "Der Wege der Wahrheit sind unzählbar viele, ich gelobe sie alle zu durchschreiten. Der Weg des Buddha ist unendlich, ich gelobe ihn bis zum Ende zu gehen."

"Ich will meinen Beitrag leisten, dass die Welt besser wird"

Dieses Bodhisattva-Gelübde im Zen muss man erklären, sagt Sylvia Wetzel. Denn man gelobe etwas, das man gar nicht könne. "Aber die Idee ist, man wird rausgeschleudert aus diesem kleinkarierten Denken. Oh Gott, es gibt so viele Leute, vor denen will ich mich lieber retten, also ich will weglaufen. Oder es gibt so viele Elemente, Aspekte von Gier, Hass und Verblendung. Ach, ich ignoriere die lieber."
Statt aufzugeben vor der Fülle der Aufgaben, denkt man den eigenen Glauben größer und somit auch die eigenen Fähigkeiten größer – so funktioniert die Idee. Wetzel findet genau dies inspirierend. "Nicht im Sinne eines Leistungsprogramms, dem ich mich jetzt unterwerfe", sagt sie, vielmehr zeige es ihr tagtäglich: "Es gibt unendlich viele Wesen und ich will heute meinen Beitrag leisten, dass die Welt besser wird. Und wenn das nur darin besteht, dass ich positive Energie aussende oder jemand zulächle beim Einkaufen. Irgendwie einen positiven Impuls geben – das finde ich schön an diesem Gelübde und das machen die Zen-Leute jeden Tag."
Bei allen Mitgefühls-Meditationen dürfe es nicht allein beim Mitgefühl für sich selbst bleiben, dann wäre es nur Wellness, scherzt Wetzel, die einen feministischen Buddhismus lehrt. Zum Mitgefühl gehöre auch Wohlwollen, Freundlichkeit und "Metta" dazu. "Das richtet den Blick auf die Ressourcen der anderen Person. Also, ich guck nicht nur auf dein Leiden, sondern ich guck auch auf das, was bei deinem Leben funktioniert. Was ich fördern kann, positiv an Qualitäten. Das wäre erst Mitgefühl im vollen Sinne."
Die buddhistische Literatur kennt Hunderte moralischer Beispielgeschichten, in denen es um Mitgefühl geht. Die sogenannten Jatakas, Erzählungen aus den Leben vor Buddhas Erleuchtung, wurden früh tradiert und in viele Sprachen übersetzt. Da bietet sich der Bodhisattva zum Beispiel einer Tigerin als Fraß für ihre Jungen an, damit diese nicht verhungern. Alle Taten der Bodhisattvas – auch diese heroische Selbstopferung – geschehen aus Mitgefühl, in das nicht nur Menschen, sondern auch Tiere eingeschlossen sind. Dabei ist das Mitgefühl letztlich kein Selbstzweck, sondern es dient als ethische Schulung dem höheren Ziel des Erwachens.
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