Britische Pop-Originale

Beautiful Extremes

Eine alte akustische Gibson Gitarre steht auf einem Ständer neben einem Sofa mit dem Union Jack als Muster.
Eine Gibson Gitarre steht neben einem Sofa mit dem Union Jack als Muster. © imago / imagebroker
Von Florian Ehrich · 04.02.2017
Sie sind weitgehend unbekannte Künstler britischer Popmusik: John Martyn, Kevin Coyne und Robert Wyatt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit geboren, waren sie unterschiedlichsten Einflüssen von Folk und Countryblues bis zu Freejazz und moderner Orchestermusik ausgesetzt - und suchten nach einem ganz eigenen Ausdruck.
Sie entfernten sich dabei zuweilen weit von gängigen Hörgewohnheiten des Publikums und Erwartungen der Musikindustrie. Während der kantige Kevin Coyne intuitiv bluesbasierte Songs erschuf, die mit minimalem Aufwand ein Maximum an Ausdruck erreichen, entwickelte der Jazzenthusiast Robert Wyatt Musik, die feinsinnigen Humor, Melancholie und politisches Bewusstsein verbindet.
John Martyn dagegen verließ seine Folkwurzeln durch den innovativen Einsatz von Effektgeräten und gebrochenen Akkorden und gelangte zu einem eigenständigen Klang, der die Stilgrenzen zwischen Jazz, Folk, Rock, Blues und Reggae fließend überwindet.
Die akustischen Zumutungen dieser drei Expressionisten haben bis heute kaum Patina angesetzt. Hinter der eigenartigen, ebenso schönen wie verstörenden Klangwelt dieser ebenso faszinierenden wie schwierigen Menschen verbergen sich jedoch persönliche Dramen, Katastrophen und Abgründe. Auch darüber sprechen Kritiker wie auch Weggefährten in der Langen Nacht.
Diese Sendung ist eine Hommage an drei sehr britische Künstler, die kaum dem Klischee des Pop- oder Rockstars entsprechen, in ihrer Heimat aber bisweilen als National Treasure - nationales Kulturgut - verehrt werden.



Das Manuskript zur Sendung:
Als in den Fünfzigerjahren Rock `n` Roll nach England schwappte, begann auf der Insel sofort ein Prozess der musikalischen Aneignung und Transformierung durch die Jugend. Jazz und Blues waren die wichtigsten Quellen einer Musik, die ohne elitäre Hürden direkte Partizipation erlaubte und andererseits flexibel genug war für die Verschmelzung mit europäischem Erbe wie der Klassik, Folklore oder den Songs der Music Halls. Bisweilen als Mutterland der Popmusik bezeichnet, stammen aus dem Vereinigten Königreich eine ganze Reihe großer Individualisten und Einzelgänger, deren musikalische Sonderwege vielleicht auch dem vielberühmten englischen Hang zur Exzentrik geschuldet sein mögen. Unbestreitbar jedenfalls ist die innovative Kraft britischer Poporiginale wie David Bowie oder Kate Bush.
Weniger bekannt als die genannten sind drei Klassiker englischer Popmusik, deren Karriere bisweilen im Obskuren verlief: John Martyn, Kevin Coyne und Robert Wyatt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit geboren und unterschiedlichsten Einflüssen von Folk und Countryblues bis zu Freejazz und moderner Orchestermusik ausgesetzt, suchten diese Künstler zeitlebens nach einem eigenen unverwechselbaren Ausdruck. Dabei entfernten sie sich zuweilen weit von gängigen Hörgewohnheiten des Publikums und Erwartungen der Musikindustrie.
Roger Waters und Nick Mason von Pink Floyd im Studio Anfang der 1970er-Jahre. Mit ihrer psychedelischen Rockmusik entwickelten Pink Floyd einen bis dahin einzigartigen Stil. Auf Grund des exzessivev Drogenkonsums Syd Barretts entschied die Band Ende der 60er, ohne Barrett weiterzumachen.
Roger Waters und Nick Mason von Pink Floyd im Studio Anfang der 1970er-Jahre. Pink Floyd spielen eine Benefiz-Konzert für den schwer verunglückten Robert Wyatt.© Copyright: Capitol Photo Archives
"Desperation is the english way" sangen Pink Floyd auf "The Dark Side of the Moon", jener großen Studie über die Melancholie, welche die experimentellen Soundtüftler 1973 in Superstarsphären hob. Etwa zeitgleich fiel ein alter Freund der Band in London aus dem Fenster und brach sich das Rückgrat. Statt nun vollends in Verzweiflung zu versinken, begann der sensible und zu Selbstzweifeln neigende Robert Wyatt zusammen mit seiner Frau Alfreda Benge eine Klangwelt zu entwickeln, in der surrealer Humor, feinsinnige Melancholie und sozialistisches Bewusstsein eine faszinierende Mischung eingehen. Der ehemalige Schlagzeuger der "Soft Machine" erreichte mit seinen unkonventionellen Kompositionen und seiner zerbrechlichen Stimme kein größeres Publikum. Erst seit den späten Neunzigerjahren begann eine Art Rehabilitierung des ewigen Jazzfans und Benjamin-Britten-Verehrers, der nun ob seiner Haltung und künstlerischen Integrität als einer der Großen der britischen Musikszene respektiert wird.
Anders als der aus linksliberal-akademischem Milieu stammende Wyatt war der in Mittelengland geborene Kevin Coyne ein Kind der Arbeiterklasse. Wie viele Rockmusiker seiner Generation – prominente Beispiele sind John Lennon oder Pete Townsend – besuchte er eine Kunsthochschule, in der er sich mit deutschen Expressionisten wie Otto Dix oder Max Beckmann befasste. Noch wichtiger für seine Kunst waren die Erfahrungen, die er als Sozialarbeiter in einer psychiatrischen Anstalt machte. Seine Songs, meist minimalistisch auf der Basis des Blues intoniert, sind hellwache Alltagsbeobachtungen und Charakterstudien aus dem ganz normalen Wahnsinn des Lebens. Hinter der rauen Fassade und der Angriffslust dieses begnadeten Bühnenkünstlers stand ein Mensch, der den Verrückten und den Verlieren eine Stimme gab, ohne je in Sentimentalität oder Sozialkitsch abzudriften. Nach einem alkoholbedingten Zusammenbruch strandete der unermüdlich arbeitende Sänger in Nürnberg, wo er heiratete und neben seinen Aufnahmen ein bemerkenswertes grafisches Werk schuf.
Anders als Coyne gelang es dem schottischen Musiker John Martyn nicht, sich von seinen Dämonen – Alkohol und Drogen – zu befreien. Bereits mit 18 Jahren veröffentlichte der talentierte Gitarrist und Sänger seine erste Platte, die ihn als Songwriter in der Nachfolge von Bert Jansch oder Davey Graham auswies. Bald jedoch verließ er seine Folk-Wurzeln durch den innovativen Einsatz von Effektgeräten und gebrochenen Akkorden und gelangte zu einem eigenständigen Klang, der die Stilgrenzen zwischen Jazz, Folk, Rock, Blues und Reggae fließend überwand. Martyn konnte mit Inbrunst und unverwechselbarem keltischem Timbre die Kraft der Liebe beschwören, war jedoch auch ein gefährlicher Lebemann mit gewalttätigen und selbstzerstörerischen Neigungen.
Hinter der eigenartig schönen Klangwelt dieser ebenso faszinierenden wie schwierigen Menschen verbergen sich persönliche Dramen, Katastrophen und Abgründe, über die Kritiker als auch private und musikalische Weggefährten sprechen. Eine Hommage an drei sehr britische Künstler, die in ihrer Heimat bisweilen als "National Treasure" – nationales Kulturgut – verehrt werden.
John Martyn
Hamish Imlach erkennt das Talent des 1948 im Londoner Vorort New Malden geborenen und in Glasgow aufgewachsenen Teenagers, der, schlank und hochgewachsen, das runde Gesicht mit den hellen Augen von blonden Locken umrahmt, ein beinahe engelhaftes Aussehen hat.
Der Bühnenprofi Imlach, dessen Repertoire vornehmlich aus alten Balladen, Trinkliedern und Protestsongs gegen die Atombombe besteht, führt seinen Schützling in die schottischen Folkclubs ein, wo er erste Bühnenerfahrungen sammelt. Nachdem sich der schnell lernende auch im "Les Cousins", dem berühmtesten Folkclub Londons, dem Publikum stellt, wird der Chef von Island Records, Chris Blackwell, auf den bereits versiert spielenden Gitarristen aufmerksam. Blackwell hatte sich bis dahin auf Musik aus Jamaika konzentriert und nimmt nun mit dem jungen Schotten einen der ersten weißen Musiker unter Vertrag. Dieser nennt sich jetzt in Anlehnung an einen renommierten Hersteller von Akustikgitarren John Martyn, wobei er das i in dem Markennamen durch ein nobleres y ersetzte.
Nach dem noch etwas epigonalen Debutalbum, das er als 18-Jähriger einspielt, beginnt sich bald abzuzeichnen, dass Martyn die Form des konventionellen Folksongs als zu eng empfindet. Die zweite Platte bereichert der jamaikanische Jazzflötist Harold McNair, dann folgen Aufnahmen mit einem amerikanischeren Sound, die John Martyn zusammen mit der jungen Sängerin Beverley Kutner aufnimmt. Beverley, eine Freundin von Paul Simon, trat 1967 auf dem Monterey-Pop-Festival in Kalifornien auf und engagiert Martyn zunächst als Gitarristen für ihr erstes Soloalbum. Während der Sessions verlieben sie sich, heiraten bald darauf und veröffentlichen zwei Platten als "John & Beverley Martyn". Beverley macht ihren Mann auf Bebop und andere Spielarten des modernen Jazz aufmerksam. Der junge Schotte begeistert sich besonders für den Saxofonisten Pharoah Sanders, dessen berühmtes Album "Karma" ihm wie eine Offenbarung erscheint. Nach einem halbherzigen Versuch, sich das Saxofon beizubringen, entdeckt er ein Gerät, dass seine Auffassung von Musik, seine Spieltechnik und seinen Sound in eine neue Richtung lenken sollte. Der Echoplex ist eine analoge Effektmaschine, welche durch ein Stück Tonband, das über zwei Spulen läuft, ein kontinuierliches Echo erzeugt. Durch einen Schieberegler lassen sich die Intervalle der wiederkehrenden Echosignale einstellen. Das Gerät ist in etwa so groß wie ein kleiner Koffer und erzeugt einen reichen, warmen und harmonischen Sound, der von modernen digitalen Effektpedalen kaum erreicht werden kann.
Martyn ist zunächst darauf aus, die Töne der Gitarre zu verlängern, doch beim Experimentieren mit dem Gerät entdeckt er die rhythmischen Möglichkeiten des Echoeffekts. In Verbindung mit einem Verzerrer und einem Wah-Wah-Pedal entwickelt er neue Klangbilder, die seine klassischen Alben der Siebzigerjahre prägen und andere Musiker - am deutlichsten vielleicht den "U2"-Gitarristen The Edge - maßgeblich beeinflussen sollten. Der Echoplex ermöglicht es Martyn, Solo oder mit einer kleinen Band vor einer Wand aus perkussiv an - und abschwellenden Tönen zu improvisieren. Auf der Bühne entsteht so ein raumgreifender, fast orchestral anmutender Klang. "So far ahead of everything" nannte Eric Clapton das einmal, allem und jedem weit voraus.
Offizielle Website von John Martyn
Discographie
Buchtipp:
"Some people are crazy" von John Neil Munro über John Martyn (Edinburgh 2010). (leider nur auf Englisch erhältlich)
Musik-Tipps:
John Martyn: Solid Air
John Martyn: One World
John Martyn: Grace and Danger
John Martyn: Sunday´s child
John Martyn: Live at Leeds
Kevin Coyne
Der britische Blues- und Rocksänger ("Marlene", "Having a Party") Kevin Coyne (undatiert). Er wurde am 27. Januar 1944 in Derby geboren.
Undatiertes Bild des Musikers Kevin Coyne.© picture-alliance / dpa
Kevin Coyne: "Ich wurde in dieser Stadt geboren, in einer seltsamen Gegend in Mittelengland. Aber als katholisches Kind werden dir viele Vorstellungen und Ideen weiter gegeben, wie der Beginn des Lebens und der Beginn des Todes. Und eine seltsame Phantasie, die Phantasie anderer zieht dich in Welten hinein, die du nicht verstehen kannst. Hier lief ich schon früher herum, hier habe ich geheiratet. Ich schrieb damals etwas über diese beiden Statuen hier. Sie sehen jetzt so klein aus, wahrscheinlich weil ich jetzt erwachsen bin. Wie die meisten Menschen denke ich, dass meine Art zu leben die Beste ist, dass ich klarer sehe. Aber ich bin mir nicht sicher. Manche Leute behaupten, dass Blumen sprechen können, aber ich kann sie nicht hören. Aber ich lebe in Hoffnung und davon handeln meine Musik und meine Texte. Es geht um Hoffnung, Optimismus und Erlösung. Ich denke, es muss etwas existieren, dass besser ist als das hier, ja es gibt ganz sicher etwas Besseres, oder nicht?"
Andy Summers: "Eines Nachmittags im Sommer 1974 gehe ich zu einem Konzert im Hyde Park. Eine Reihe von Künstlern ist angekündigt, darunter auch ein rundlicher Teddybär von einem Mann namens Kevin Coyne. Ich bin irritiert von seinem beißenden Witz, seiner selbstironischen Performance und seinen kantigen Texten, er klingt wie niemand sonst. Ein paar Wochen später höre ich, dass er nach einem neuen Gitarristen sucht. Ich finde heraus, wo das Vorspielen stattfinden soll und mache mich mit meiner Telecaster und dem Fender Twin-Verstärker auf den Weg. Wir spielen ein paar von Kevins Songs: "Marjory Razorblade", "Mona, where´s my trousers?", "Eastbourne Ladies". Es funktioniert und ich betrete das Reich von Kevin Coyne."
In seiner Autobiografie 'One train later' beschreibt der englische Rockstar Andy Summers seine Musikerodyssee. Ein mäßig erfolgreicher Gitarrist, der sich von Engagement zu Engagement hangelt und schließlich gegen Ende der Siebzigerjahre zum umjubelten Bandmitglied der immens erfolgreichen New-Wave-Combo 'The Police' wird. Eine der spannendsten Stationen auf diesem Weg war sein Engagement bei Kevin Coyne.
Andy Summers: "Kevin hat ein brillantes Talent für fantastische, frei improvisierte Texte über das Leben und die Menschen: ergreifend, witzig und schmerzhaft. Ein begabter und origineller Künstler, ich bin glücklich, mit ihm auf die Bühne zu gehen. Als wir mit den Proben beginnen, lerne ich schnell, dass in dieser Band das Trinken großer Mengen Alkohol Usus ist, und zwar aufgrund Kevins grenzenlosem Vertrauen in das Gebräu, das ihn in die richtige Stimmung versetzen soll. Die Fähigkeit, Bier zu tanken, scheint genauso wichtig zu sein wie zu spielen. Kevin, ursprünglich aus Derbyshire, ist ein intensiver und leidenschaftlicher Mann, den ein Hauch des psychotischen umweht, obwohl er auch sehr lustig ist. Durch einen Nebel von Bier und Zigarettenrauch unterhält er uns mit endlosen Geschichten über die Insassen und den Wahnsinn jener Anstalt, in der er gearbeitet hat.
Durch den Dunst sehe ich, wie Coyne mit diesem Hintergrund verschmilzt und es ist schwer auszumachen, wo seine eigene Person beginnt und aufhört. Aber wir arbeiten uns durch den braunen Saft und die verrückte Atmosphäre verdichtet sich. Kevin, total besoffen, psychoanalysiert uns einen nach dem anderen. Alle wertvollen Eigenschaften, die wir uns selbst vielleicht zuschreiben, werden in Fetzen gerissen, bepisst und zertrampelt. Meistens endet es mit einem genuschelten: 'Du bringst es nicht - du kannst nicht spielen, du bist verdammt nutzlos - fucking useless.' Nach dem ersten Gig, den ich mit ihm spiele - es war in Oxford - hat er mich dermaßen beschimpft, dass ich, nicht begreifend, dass es sich hierbei um ein Ritual von Kevin handelt, ihm sage, er solle sich verpissen und einen neuen Gitarristen suchen.
Ich hämmere die Tür des Kleinbusses zu und rausche die Treppen zu meiner dunklen Kellerwohnung herunter. Der Gitarrenkoffer schlägt gegen die feuchten Wände, mein Kopf rast voller Zorn. Ich schlüpfe herein in den Frieden meiner Wohnung - und in erneute Arbeitslosigkeit. Aber am nächsten Tag ruft er mich voller Entschuldigungen an und mit einem Achselzucken legen wir wieder los. Als ich ihn besser kennen lerne, realisiere ich, dass ich den Mann liebe und großen Respekt für ihn hege, denn hinter dieser bohrenden und rauen Persönlichkeit ist er voller Humanität, Mitleid und Musik."
Autoren-Tipps:
Kevin Coyne: Marjory Razorblade
Kevin Coyne: Dynamite Daze
Kevin Coyne: Millionaires and Teddy Bears
Kevin Coyne: Bursting Bubbles
Kevin Coyne: Pointing the Finger
Kevin Coyne: Sugar Candy Taxi
Kevin Coyne: Donut City
Robert Wyatt
Wyatt tourte mit Soft Machine u. a. als Vorgruppe der Jimi Hendrix Experience 1968 durch die USA.
Robert Wyatt als Schlagzeuger der Band "Soft Machine" in 1967 - die Band ist als Vorgruppe der Jimi Hendrix Experience 1968 durch die USA getourt© Imago / Zuma / Keystone
Robert Wyatt, geboren am 28. Januar 1945 in Bristol, Schlagzeuger und Sänger der Gruppe Soft Machine und Matching Mole, brach sich im Juni 1973 im volltrunkenen Zustand die Wirbelsäule. Discjockey John Peel berichtete darüber in seiner Sendung. Der Musiker überlebte den Sturz aus dem vierten Stock, seine Karriere aber schien beendet.
Robert Wyatt: "Ich war im Krankenhaus die ersten sechs Wochen bewusstlos und stand unter Medikamenten. Es brauchte sechs Wochen, um herauszufinden, was permanent zerstört war und was nur ein Trauma. Wie auch immer, Ronnie Scott hat etwas Geld geschickt und dann haben Pink Floyd ein Benefizkonzert gespielt - und dieses Konzert bedeutete, dass wir, die nichts besaßen, auf einmal einige Tausend Pfund zur Verfügung hatten. Eine Freundin von Alfie schenkte ihr dann ihr altes Auto und Julie Christie hat uns eine Wohnung gekauft, denn unsere Wohnung hatte Treppen, die ich niemals mit dem Rollstuhl überwinden konnte. Und mit dem Geld von Pink Floyd begannen wir wieder zu leben, aber es war sehr bescheiden."
Der zu Depressionen und Selbstzweifeln neigende Künstler hatte zu dem Zeitpunkt des Unglücks bereits zwei Selbstmordversuche hinter sich und steckte nach dem Rausschmiss aus seiner Band Soft Machine in einer künstlerischen und persönlichen Krise. Der Sturz zwang ihn zu einer Neuorientierung.
Robert Wyatt: "Ich ging rücksichtslos mit meinem Körper um. Deswegen war es für mich keine Überraschung, dass ich mir das Rückgrat gebrochen habe - ich wusste, irgendwas würde passieren. Ich hatte eine Band namens Matching Mole damals, ich fiel aus dem Fenster, brach meine Wirbelsäule und fing von vorne an."
Der einst sehr physische und laute Schlagzeuger, mit wehenden blonden Haaren und nacktem Oberkörper auf der Bühne ein Blickfang, war nun von der Taille abseits gelähmt und konnte nicht mehr Schlagzeug spielen. Wyatt zog sich zurück und konzentrierte sich auf Komposition und Gesang. Einen Schritt, den der knapp dem Tode entkommende als befreiend erlebte, da er, entledigt von den Zwängen und Verantwortlichkeiten in einer Band, sich als Solist konsequenter an die Realisierung seiner musikalischen Vision machen konnte. In den folgenden vier Jahrzehnten veröffentlichte Robert Wyatt eine Reihe von hochgradig originellen Solowerken zwischen Pop und Avantgarde, in denen englischer Humor, feinsinnige Melancholie und politisches Engagement überraschende Verbindungen eingehen. Die erste und vielleicht beste dieser Platten war "Rock Bottom", die nach seinem Unfall aufgenommen und am 26. Juli 1974 veröffentlicht wurde. Am selben Tag heiratete er seine Freundin, die Illustratorin Alfreda Benge.
Robert Wyatt: "Es war Zeit, sich hinzusetzen und ein paar Songs zu schreiben, mit Alfie zu leben und nicht mehr zu touren. Ich war in meinen späten Zwanzigern und als ich angefangen habe, wieder aufzunehmen, habe ich im wörtlichen und symbolischen Sinne meine Stimme gefunden."
Schon der Titel der Platte legt nahe, "Rock Bottom" als posttraumatisches Album zu deuten. Wyatt verweist jedoch darauf, bereits vor dem Unfall mit der Konzeption dieser aufwühlenden Musik begonnen zu haben. Teile des Zyklus entstanden in Venedig, wo Alfreda Benge, genannt Alfie, Ende 1972 als zweite Assistentin am Filmset für Nicolas Roegs Film "Wenn die Gondeln Trauer tragen" arbeitete. Vor Ort kaufte sie ihrem Freund jene kleine und einfache Riviera-Heimorgel, deren langsames und schwebendes Vibrato Wyatts neues Album prägen sollte. Ebenso wichtig war die winterliche Atmosphäre der Insel Guidecca, auf der er arbeitete, und die, Venedig vorgelagert, zu offenen See hin liegt. Das Meer und die seltsame Flora und Fauna, die zutage tritt, wenn die Ebbe den Schlick freilegt, bildete eine starke Inspiration für die Musik. Wyatt schöpfte auch textlich aus diesem Fundus, während Alfies Covermotiv – eine zarte Bleistiftzeichnung des belebten Meeresgrunds – das visuelle Pendant zu der Klangwelt bildete. In seiner neuen Rolle als Solokünstler lud sich Wyatt für jeden Song die passenden Musiker ein: Den südafrikanischen Jazztrompeter Mongezi Feza, den Bassisten Hugh Hopper aus Soft-Machine-Tagen oder den experimentellen Multiinstrumentalisten Fred Frith. Dazu kam das abschließende Rezitat durch den schottischen Dichter Ivor Cutler.
Biografie über Robert Wyatt:
"Different every Time" von Marcus O´Dair (London 2015). Nur auf Englisch erhältlich.