Brigitte Kronauer: "Der Scheik von Aachen"

Viele Tote und Legenden

Der Karlsbrunnen in Aachen
Der Karlsbrunnen in Aachen © imago/xblickwinkel/S.xZiesex
Von Jörg Plath · 26.09.2016
Anita lässt ihr Leben in Zürich hinter sich und kommt in ihre Heimatstadt Aachen zurück – und das alles wegen ihrer Liebe zu Mario. In "Der Scheik von Aachen" schreibt Brigitte Kronauer über Abgründe und den Sinn des Lebens. Allerdings ohne viel Handlung.
"Der Scheik von Aachen" ist eine Geschichte aus 1001 Aachener Nacht. Eine verlorene Tochter lässt Brigitte Kronauer zurückkehren in ihre Heimatstadt – eigentlich um der Liebe willen, doch der wegen seines Gebirgsodeurs angebetete Mario bricht zum Bergsteigen auf und kehrt nimmer wieder.
Anita, weißhäutig wie eine Projektionsfläche, muss ihrem 42-jährigen Leben einen neuen Sinn verleihen. Wie gut, dass die Geisteswissenschaftlerin an der Züricher Universität als "Brückenbauerin" gearbeitet hat. Abgründe gibt es genug.
Auch liebe Tote außer Mario: Anitas Tante Emmi hat früh ihren Sohn Wolfgang verloren. Dessen Name darf – die herrische polnische Pflegerin kann es nicht fassen – auch 30 Jahre danach noch nicht erwähnt werden, anders als der des kurz danach verstorbenen Ehemannes.
Und Emmis geheime Liebschaft Brammertz, dessen Neffe Konrad Brammertz sowie Herr Marzahn, der Anita vorübergehend in seinem Aachener Andenken- und Scherzartikelladen beschäftigt, haben alle ihre Ehefrauen verloren. Dank der Toten ist das Personal des Romans überschaubar, und die ansehnliche Zahl trauernder Singles hätte einen gar lustigen Ringelreihen ergeben.
Stattdessen lässt Brigitte Kronauer alle Figuren, auch den zuweilen rüden Erzähler, auf spitzzüngig-anspielungsreiche Weise sich am Schicksal abarbeiten. Wie umgehen mit den zuschanden gewordenen Hoffnungen, wie weiterleben, was tun mit den Trümmern?

Ohne Legende geht es nicht

Die Lösung lautet: Erzählt Legenden! Eine Legende schafft Tante Emmis Verbot, den toten Wolfgangsohn zu erwähnen. Legenden erzeugt Konrad Brammertz, wenn er in Heimatmuseen mit Erzählungen zu "Dingreliquien" die Vergangenheit erfindet. Und Marzahn glaubt gleich mehreren Legenden, die abwechselnd von Erlösung und Verdammung, Verklärung und Zertrümmerung und dem verlässlich unsteten Trieb künden. Nur ohne Legende geht es nicht. Dann "glotzen" die Dinge nur, weiß der desillusionierte Antiquitätenhändler.
Legende ist auch die vereinsamte Klobürste im aufgelassenen Dorf am Rand des Braunkohletagebaus, "das Stück Hering im Geleewürfel mit einer Scheibe gekochtem Ei obendrauf" und die große Liebe. Die Gattung, die vom mustergültigen Leben der Heiligen erzählte und von den Romantikern mit Ironie wiederbelebt wurde, handelt bei Kronauer nicht von Vorbildern – mit ihr erzählen die Menschen von sich. Macht kommt den Legenden nicht von der Wahrheit zu, sondern vom Erzähltwerden. Daher ist der Roman bis auf einige rasende Autos ausgesprochen handlungsarm.
Wie viel die Autorin von der Hoffnung auf ein lebenswarmes Glück hält, zeigt schon der Titel. Das Kind Anita liest "Der Scheik von Ägypten", dessen Sohn von den Franken entführt worden ist. Der gebrochene Vater lässt am Jahrestag der Entführung Sklaven frei, nachdem sie ihm Geschichten erzählt haben. Der letzte Erzähler in diesem Reigen ist der entführte Kairam, doch der Scheik vermag den verlorenen Sohn nicht zu erkennen, weil ihn dessen Geschichte bitterlich weinen lässt. So stark können Legenden sein: Sie überwinden den Tod glaubhafter als die leibhaftige Realität. So stark können auch manche Romane sein: Sie machen den Leser zum Scheik.

Brigitte Kronauer: "Der Scheik von Aachen"
Klett-Cotta, Stuttgart 2016
399 Seiten, 22,95 Euro