Brasilianischer Theatermacher Felipe Hirsch

"Es ist jetzt wichtig, über Politik zu sprechen"

Szene aus "Die lateinamerikanische Tragödie" von Felipe Hirsch. Mit dem Stück wurde das Iboamerikanische Theaterfestival Adelande in Heidelberg eröffnet.
Szene aus "Lateinamerikanische Tragödie" von Felipe Hirsch © Deutschlandradio / S. Burkhardt
Moderation: Susanne Burkhardt · 18.02.2017
Theater als Medium für Widerstand und Protest: Beim Heidelberger Festival "Adelante" machten Theatermacher aus Mexiko, Kolumbien oder Costa Rica deutlich, warum Bühnenstücke derzeit einfach politisch ein müssen. Wir haben mit Felipe Hirsch über seine hochpolitische Produktion "Lateinamerikanische Tragödie" gesprochen.
Susanne Burkhardt: Was ist die Ursache für die "Lateinamerikanische Tragödie"? Vor allem die Kolonisation?
Felipe Hirsch: Nicht allein, aber das ist ein Teil davon. Es ist weniger die Idee der Kolonisation – als vielmehr die Form hier in Brasilien. Wir waren das letzte Land in Lateinamerika, wo es noch Sklaven gab. Das ist ein Problem hier. Ein anderes sehr großes ist Bildung. Brasilien wird immer als Land der Zukunft gehandelt, aber das stimmt nicht. Es fehlt die entsprechende Bildung. Und ein dritter Grund für die Tragödie ist unser politisches System. Unsere Politiker sind sehr korrupt. Das ist besonders schlimm bei einem Land von der Größe Brasiliens. Und dann diese Leute. Es gibt keine guten Beispiele, keine Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit und die Versöhnung kommt aus den Herzen der Menschen, aus ihrem Geist. In der familiären Bildung, im kleinen Rahmen, aber eben nicht als Teil eines politischen Konzeptes – weder in Brasilien, noch in Lateinamerika.

"Im Moment ist es möglich, mit Kunst etwas zu verändern"

Burkhardt: Sie sprechen von Politikern, über die Sie beim Festival gesagt haben, die kommen gar nicht ins Theater – weder die linken noch die rechten. Ist das ein Problem für Theatermacher oder ist das vielleicht auch ein Vorteil, wenn man so unter Radar arbeitet oder unter Radar fliegt?
Hirsch: Ich mag es, unter Radar zu fliegen, denn es ist sehr provokativ. Ich bin ja so ein jugendlicher Anarchist – keiner dieser Macho-Anarchisten – und ich verhalte mich auch gern anarchistisch, ein bisschen wie ein Punker. In Brasilien ist es im Moment wirklich möglich, etwas mit Kunst zu verändern, das war vor zehn Jahren schwieriger. Wir haben zwar eine linke Regierung aber eben auch wieder nicht sehr links. Denn alle amtierenden rechts-stehenden Politiker in Brasilien – Präsident, Minister, Senatoren – waren in der linken Regierung vertreten. Es sind also dieselben Leute. Zwar gibt es einen Unterschied, zwischen linken und rechten Politikern, aber letztlich ist es so in Brasilien: Wenn Du hier als Linker an die Macht willst, musst Du Deine Seele an den rechten Flügel verkaufen. Unglücklicherweise konnte ich das bei meinen linken Idolen beobachten. Für mich, als jugendlicher Anarchist, sind sie heute alle gleich. Für uns ist wichtig, das ganz klar zu sehen: Politiker sind unsere Gegner. Wir müssen gegen jede Art von Regierung kämpfen.
Burkhardt: Aber was ist die Lösung, wenn Sie keinem Politiker mehr trauen können?
Hirsch: Ich weiß nicht (lacht). Ich glaube die Mittelklasseschicht in Brasilien, die Armen und sogar einige Reiche nehmen diese Probleme jetzt stärker wahr. Keiner will diese Politiker in der Regierung. Deshalb müssen wir gegen diese Art von Politikern kämpfen – um sie loszuwerden. Nur so gibt es ein Ende dieser Ära und eine Zukunft für Brasilien.
Burkhardt: Lassen Sie uns nochmal über ihr Stück sprechen, aufgefallen ist mir in der "Lateinamerikanischen Tragödie", dass Sexualität eine ganz besondere Rolle spielt, dass Gewalt gegen Frauen eine große Rolle spielt. Das fängt schon an im ersten Text, als die Eroberer, die Portugiesen, das Land einnehmen und Frauen von allen benutzt werden. Es gibt eigentlich nur eine Frauengeschichte, in der die Frau die Macht über ihr Schicksal ergreift, da wurde sie vorher aber zur Prostituierten gemacht von ihrem Geliebten. Ist das ein lateinamerikanischer Blick auf die Frauen oder ein brasilianischer?
Hirsch: Nein, ich mag genau diese gerade erwähnte Geschichte sehr gern. Sie stammt von einem argentinischen Autor. Hier geht es um die Frustration eines Sozialisten, ein linksintellektueller Übersetzer, der von seinen Verlegern enttäuscht ist, der seine Utopien nicht erfüllt sieht. Und dieser Frust verwandelt sich in Aggression, in Gewalt gegen seine Freundin. Für mich eine typisch männliche Reaktion. Frauen würden das so nicht machen, sie sind sensitiv, intelligenter, ungewöhnlicher als diese gewalttätigen, frustrierten Männer. Ich mag diesen Teil sehr gern. Es geht nicht um die Frau, die zum Opfer wird, es geht um Frustration, die zu Gewalt führt. In der Schlussszene öffnet sich eine neue Spirale: Da bietet er ihr den Part des Sklaven an. Ich glaube nicht, dass das ein lateinamerikanisches Problem ist – aber in Lateinamerika wird gerade dieses Verhältnis von Gewalt an Frauen und an Minderheiten stark thematisiert. Deshalb ist es für uns sehr wichtig, weibliche Heldinnen zu präsentieren, zu zeigen, wie klug und fähig sie sind. So wie unsere ehemalige Präsidentin Dilma Rousseff. Wenn Sie in die Vereinigten Staaten schauen: Hillary. Amerika ist bis heute nicht in der Lage zu verstehen, was eine großartige Frau wie Dilma leisten kann.

"Wir haben gelernt, Gewalt nicht als einen Skandal zu empfinden"

Burkhardt: Ein chilenischer Journalist hat gesagt, die lateinamerikanischen Länder wären Experten in Sachen Gewalt. Würden Sie dem zustimmen?
Hirsch: Ja, vielleicht – aber vielleicht sind wir nicht wirklich Experten. Wir leben in einer gewalttätigen Gesellschaft und haben daher gelernt – und das ist ein Problem –, das nicht als einen Skandal zu empfinden. Wenn Du täglich Gewalt erlebst, dann wird man dagegen blind, wie betäubt. Das ist schlimm, denn die Gewalt erscheint Dir als etwas Normales – aber das ist es eben nicht. Das größte Problem hier ist aber die Kluft zwischen Arm und Reich. Wir haben hier so eine Pyramide in unserer Gesellschaft, mit ganz wenig Super-Reichen – reich in Brasilien heißt, reicher, als alle auf der Welt und sogar noch mehr – und mit armen Leuten: arm, wie die Ärmsten in Afrika. In der Mitte die Mittelschicht. Daher kommt die Gewalt. Das ist der Grund: die Struktur unserer Gesellschaft.
Burkhardt: Mit Blick auf alles, was Sie bis jetzt gesagt haben: Welche Rolle kann Ihre Arbeit, kann das Theater, kann die Kultur in Brasilien derzeit spielen?

"Ich würde viel lieber über Poesie sprechen"

Hirsch: Es ist eine Ironie. Wir haben die Situation, dass Theater sehr bedeutend ist. Das ist traurig – aber Theater spielt im Moment so eine wichtige Rolle, weil in den vergangenen drei Monaten die Regierung das Kulturministerium abschaffen wollte und auch das Kultursekretariat in Rio de Janeiro und in Sao Paulo. Künstler haben deshalb öffentliche Gebäude besetzt, und protestiert – mit Shows, Performances, Konzerten – und haben die Schließung verhindern können. Auch wenn es traurig stimmt, aber Theater ist heute wichtiger als vor zehn oder 15 Jahren. Ich würde viel lieber über Poesie sprechen, über Humanität und Gott. So ein bisschen im Birdman-Style – aber im Moment ist es wichtig über Politik zu sprechen. Mein Stück hier ist ja nicht nur über Politik – es handelt auch von der Liebe – aber letztlich doch vor allem von Politik.
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