Bohéme in Istanbul

Rezensiert von Edelgard Abenstein · 19.09.2005
Leyla Erbils Roman "Eine seltsame Frau" war bei seinem Erscheinen 1971 eine kleine Sensation. Darin entfaltet sie das politische und literarische Leben Istanbuls von den 50er bis in die 70er Jahre. Durch den historischen Abstand wirkt der Text mitunter um Originalität bemüht, ist aber dennoch ein erstaunliches Dokument aus dem vergangenen Jahrhundert.
Wenn im Oktober Orhan Pamuk mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird, dann rückt auch die Literatur der Türkei in das Licht der Öffentlichkeit, eine Literatur, von der wir recht wenig wissen. Lyrik von Nazim Hikmet, ein paar Romane von Yasar Kemal – wenig mehr ist im Angebot, lässt man die in Deutschland lebenden türkischen Autorinnen und Autoren der zweiten oder dritten Generation außer Acht.

Dabei ist jenseits dieses Dreigestirns einiges zu entdecken, das sich vielleicht als Zugang zu dem Land zwischen Orient und Okzident erweist. Diese Lücke füllt nun der Unionsverlag mit einem auf 20 Bände angelegten Projekt: der "Türkischen Bibliothek". Neben einem populären Krimi und einer Anthologie von Kurzgeschichten eröffnet ein früher Roman der Grand Old Lady der türkischen Literatur den Kanon der Moderne: Leyla Erbils Roman "Eine seltsame Frau". Entfaltet wird darin das politische und literarische Leben Istanbuls von den 50er bis in die 70er Jahre.

Im Tagebuchstil notiert eine junge Studentin, wie sie in einem erstaunlich aufgeweckten Bohème-Milieu der 50er Jahre heranwächst. Sie liest Freud, Dostojewski und Marx, schreibt Gedichte und rebelliert gegen eine Mutter, die ein religiös-rigides, sittenstrenges Regiment führt.

Sie schildert ihre ersten Begegnungen mit schwärmerisch verehrten Schriftstellern, studentischen Rebellen und Helden der linken Szene. Es geht um neue Lebensentwürfe, um Erotik und Sex und immer wieder um Unabhängigkeit - in einem Klima von heilloser Verklemmtheit, politischen Gefahren und einem übermächtigen Machismo.

Später wird sie heiraten, zieht als Linke mit missionarischem Eifer in ein Arbeiterviertel, scheitert dort und in ihrer Ehe und findet sich schließlich mit dem Dasein einer wohlsituierten Intellektuellen ohne Einfluss ab.

Leyla Erbil ist heute 74 Jahre alt, hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Essays geschrieben und wurde kürzlich vom türkischen PEN auf die Vorschlagsliste für den Nobelpreis gesetzt. Als "Eine seltsame Frau" 1971 erschien – lange vor den bekenntnishaften Frauenromanen "Häutungen" von Verena Stefan oder "Angst vorm Fliegen" von Erica Jong, wie sie in der westlichen Welt den Markt bestimmt haben –, war das Buch eine Sensation.

Man darf vermuten, dass auch bei Erbil viel Autobiografisches eingeflossen ist. Allerdings erzählt sie nicht im feministischen Selbstentblößungston, vielmehr durchschreitet sie mutig Tabuzonen: Erbil schildert eine inzestuöse Geschwisterbeziehung und Masturbationsphantasien, denen, man staune, sogar Joseph Stalin als Objekt der Begierde dient.

Viele formale Neuerungen sind im Spiel: innere Monologe, Rückblenden, häufige Perspektivwechsel, Dokumente werden einmontiert und die Grenzen zwischen Traum und Realität immer wieder aufgehoben, so dass über dem Ganzen ein Hauch von Surrealem liegt.

Allzu deutlich merkt man dabei freilich den Ehrgeiz, den Roman in ein Experimentierfeld zu verwandeln. Seine vier Kapitel, in denen unterschiedliche Genres und Schreibweisen vorgeführt werden, wirken, zumal im historischen Abstand, um Originalität bemüht und trotz mancherlei Verknüpfungen ohne inneren Zusammenhang.

Dennoch ist der Roman ein erstaunliches Dokument aus dem vergangenen Jahrhundert, vermittelt er uns doch ein wahrhaft überraschendes Bild von der Großstadttürkin inmitten einer islamischen Gesellschaft.


Leyla Erbil: Eine seltsame Frau
Aus dem Türkischen von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch. Türkische Bibliothek. Unionsverlag. Zürich 2005.
206 Seiten, 17,90 Euro