Böse, böser, am bösesten - die Stiefmutter

Von Walter Filz · 28.12.2012
Böse, hartherzig, skrupellos. 13 Stiefmütter kommen in den 200 Kinder- und Hausmärchen der Grimms vor. Da den Lesern die Rolle offenbar gefiel, fügten die Brüder in späteren Auflagen der Märchensammlung weitere hinzu: Aus hartherzigen leiblichen Müttern machten sie bösartige Stiefmütter.
Es war einmal - die Stiefmutter.

Tatsächlich und wahrhaftig ist die Stiefmutter bei den Brüdern Grimm vielleicht nicht ganz so häufig wie man denken könnte, aber dafür immer enorm präsent. 13 Stiefmütter kommen in den 200 Kinder- und Hausmärchen vor. Darunter so bekannte wie die Stiefmutter von Schneewittchen.

"Als sie Schneewittchen wie tot am Boden liegen sahen, hatten sie gleich die böse Stiefmutter im Verdacht." (aus: Schneewittchen)

Die Stiefmutter von Aschenputtel

"Was macht der garstige Unnütz in den Stuben, sagte die Stiefmutter, fort mit ihr in die Küche." (aus: Aschenputtel)

Die Stiefmutter von Brüderchen und Schwesterchen

"Die Stiefmutter schlägt uns alle Tage. Und wenn wir zu ihr kommen, stößt sie uns mit dem Fuß fort." (aus: Brüderchen und Schwesterchen)

Böse, böser, am bösesten sind die Stiefmütter bei den Brüdern Grimm. Und offenbar liebt sie das Publikum. Ob die Grimms Leserbriefe und Fanpost bekommen haben? Fiese Frauen, klasse - mehr davon. Jedenfalls fügten die Brüder in späteren Auflagen ihrer Märchensammlung weitere Stiefmütter hinzu. Aus der zwar hartherzigen, aber leiblichen Mutter von Hänsel und Gretel

"Auf, Kinder, in den Wald." (aus: Hänsel und Gretel)

machten sie nachträglich ebenso eine Stiefmutter wie aus der zwar ungerechten aber leiblichen Mutter der ungleichen Au-pair-Mädchen von Frau Holle.

"Sie hatte aber die faule viel lieber als die fleißige." (aus: Frau Holle)

Auch Schneewittchens Stiefmutter ist in der ersten Auflage noch die leibliche Mutter. Sind Stiefmütter weniger lieb?

"Es war einmal eine Mutter, die hatte nur ihre rechte Tochter lieb. Und hasste ihre Stieftochter." (aus: Der liebste Roland)

Darf man diese Frage überhaupt stellen? Heute, da die Patchwork-Familie als heikle Herausforderung gilt, die bei gelungener Bewältigung als Ideal multinuklearer Sozietät gepriesen wird – oder anders gesagt: super, wie viel Spaß, ihr alle miteinander habt. Noch vor 30 Jahren hieß das weniger buntscheckig "Stieffamilie".

Und ein offenbar von Grimms Märchen geprägtes kanadisches Forscherpaar machte in den 80er-Jahren eine Untersuchung: haben Kinder in Familien mit Stiefmutter oder Stiefvater ein höheres Misshandlungs- und Sterberisiko? Erschütterndes Resultat: ja, haben sie und zwar ein 70mal so hohes. Das darf doch wahr nicht sein. Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wurde die Studie durch zig Gegenstudien in Zweifel gezogen.

Aber - mal völlig unstudiert intuitiv - ist dieser in der Psychologie – sinnigerweise sogenannte – Cinderella-Effect nicht leicht nachvollziehbar? In der Gegenwart der Grimms waren Stiefmütter nicht selten – anders als in der Vorvergangenheit, in der die Grimmschen Märchen spielen. Ursache des verstärkten Witwertums war das Kindbettfieber, an dem viele Mütter starben. Und das kam im 19.Jahrhundert verstärkt auf, als viele Frauen nicht mehr zuhause ihre Kinder auf die Welt brachten, sondern in Krankenhäusern und Gebäranstalten, wo sich Ärzte zwischen Leichenuntersuchung und Geburtshilfe nicht die Hände wuschen.

Erst 1847, kurz bevor die Grimms die sechste und letzte Ausgabe ihrer Märchen veröffentlichten, entdeckte der Arzt Ignaz Semmelweis, die Ursache des Kindbettfiebers: verschleppte Keime.

Die hygienischen Bedingungen in den Krankenhäusern wurden verbessert. Die Märchen der Brüder Grimm blieben nachhaltig infiziert. Vom Keim des Bösen aus dem Geist der Stiefmutter. Gegen den auch nur drastische Desinfektion half.

"Die böse Stiefmutter aber ward verbrannt." (aus: Brüderchen und Schwesterchen)

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