Blick in einen unendlichen Raum

Von Stefanie Oswalt · 15.09.2012
Ein Besuch bei drei Institutionen in Köln, München und Berlin, die Christentum und moderne bildende Kunst verbinden wollen. Mit der Erkenntnis: Es gibt sie gar nicht, "die" zeitgenössische christliche Kunst.
"Das Faszinierende am Glauben wie an den Künsten ist ja, dass es keinem Zweck gehorcht, der sich vernutzen ließe. Die Kunst muss nichts darstellen, außer das, was sie selber darstellen will."

Als Pfarrerin und Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche Deutschlands beschäftigt sich Petra Bahr seit vielen Jahren mit dem Verhältnis von Christentum und Kunst. In einer zunehmend komplexen Gegenwart sieht sie in der modernen Kunst eine Möglichkeit, den Menschen eine individuelle, spirituelle Annäherung an den Glauben zu ermöglichen:

"Da gibt’s 'ne große Verbindung und da liegen auch die Freiheitspotentiale der Gegenwartskünste und auch der Religion, dass sie den Blick öffnen für dieses Darüber-hinaus."

An verschiedenen Orten in Deutschland bemühen sich Institutionen, diese Freiheitspotentiale darzustellen. Etwa im Kolumba in Köln. Das Museum ist nach der ehemaligen Pfarrkirche benannt, deren Ruinen in den Bau integriert sind:

"Ich begrüße Sie sehr herzlich in Kolumba, wir sind eine recht große Gruppe."

Samstagvormittag, 10.30 Uhr. Für die Allgemeinheit ist das Museum noch geschlossen, nicht aber für die etwa 20 Interessierten, die sich mit der Kunsthistorikerin Viola Michely auf eine Führung begeben:

"Ich versuche, auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einzugehen, ich möchte keine Vorträge halten, unterbrechen Sie mich, fragen Sie mich, nutzen Sie die Zeit für sich."

Neugierig wandert die Gruppe – vorwiegend ältere Damen, die schon mehrfach hier waren, einige Herren und eine Großfamilie mit drei kleinen Kindern – durch die spektakulären Räume, die der Schweizer Architekt Peter Zumthor für das seit 1853 bestehende Museum entworfen hat. Frühmittelalterliche Heiligenbildnisse stehen hier neben modernen abstrakten Gemälden; gotische Altarbilder und Skulpturen werden mit Gegenständen des Alltags in Beziehung gesetzt.

Marc Steinmann ist Kurator und stellvertretender Direktor des Museums:

"Also wir haben einen ganz heterogenen Bestand an Kunst – ein bisschen bösartig formuliert ist das ein Sammelsurium. Und das ist kein Malus, sondern das ist eine Riesenchance, wenn man das eben erweitert in eine Sammlung mit moderner Kunst und wenn man dann versucht, Dinge immer wieder in neue Kontexte zu bringen, neu zusammenzustellen."

Der Besucher soll zum Assoziieren und "Denken" – so auch der Titel der letzten Jahresausstellung – angeregt werden. Als Orientierungshilfe erhält er nicht mehr als ein kleines Heftchen mit den nötigsten Angaben zu den Werken. Der Verzicht auf Erläuterungstafeln, Bildbeschriftungen oder Audioguides soll einen unverstellten Blick auf die Kunst erlauben. Etwa in einem Raum, in dem eine barocke Muttergottes aus Alabaster und farbigen Aluminiumschnitten des Kölner Künstlers Volker Saul in Beziehung gesetzt werden, die erst in diesem Jahr entstanden sind.

"Was ist Ihr Eindruck?" – Besucher 1: "Scherenschnitte... Ja... Wenn ich das als Figur sehe, dann kann ich ja kaum entscheiden: ist es pflanzlich, ist es tierisch, ist es mikroskopisch, irgendeine Bakterie oder was auch immer in meinem Körper, sehr schwer zu deuten…" – Besucher 2: "Also ich würd' das nicht deuten."

Das Konzept scheint zu funktionieren, seit 2010 liegt die Besucherzahl im Kolumba konstant bei etwa 60.000. Und ein Beitrag der Zeitschrift "Herder-Korrespondenz" bezeichnet es in einem aktuellen Sonderheft zum Thema Kunst als "bis dato prominentestes Diözesanmuseum" – wobei die Macher des Museums eigentlich weg wollen von dieser Bezeichnung.

Marc Steinmann: "Wir wehren uns ein bisschen gegen das Etikett oder die Schublade der christlichen Kunst. Deswegen ist der Name Diözesanmuseum auch abgelegt worden. Wir nennen uns Kolumba, Kunstmuseum des Erzbistums Köln. Damit ist klar: Wir sind in der kirchlichen Trägerschaft, aber wir gehen immer von der Kunst aus, das ist immer unser Zentrum."

Die Schublade der christlichen Kunst. Auch bei der vor beinahe 120 Jahren gegründeten "Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst" ist sie gefürchtet. Schon vor 20 Jahren wollte sich der von den Amtskirchen unabhängige ökumenische Verein, der in München eine eigene Kunstgalerie betreibt, einen neuen Namen geben, sagt ihr Kurator und Geschäftsführer Jean Stock:

"Aber sie haben keine vernünftige Benennung gefunden: Also irgendwie so Gesellschaft für Kunst von Christen oder Gesellschaft für zeitgenössische Kunst mit christlichem Hintergrund – ist alles verworfen worden. Man hat gesagt: 1893, wir haben eine Tradition, wir bleiben dabei."

Dabei ist die Tradition der Gesellschaft längst auf den Kopf gestellt, denn sie wurde Ende des 19. Jahrhundert ursprünglich zur Bewahrung des christlichen Kunsthandwerks und der Erhaltung eines christlichen Bilderkanons gegründet: Als Bollwerk gegen die Einflüsse des französischen Impressionismus und des deutschen Expressionismus. Mit dieser Tradition allerdings hat die Gesellschaft längst gebrochen: Schon lange haben die Ausstellungen der Galerie nichts mehr mit der Darstellung von kirchlichem Kunsthandwerk zu tun.

Jean Stock: "Die große Öffnung hat in der Gesellschaft stattgefunden mit dem zweiten Vatikanum. Also dieser Begriff des aggiornamento – sich für den Tag öffnen, für die Welt öffnen – hat natürlich gerade bei den Künstlerkreisen große Aufnahme gefunden. Und im Grunde genommen: Das ist auch noch so das Motto, das uns trägt."

Seit Mitte der 60er-Jahre zeigt die Galerie zeitgenössische Künstler, etwa Skulpturen des österreichischen Bildhauers Alfred Hrdlitschka oder die farbgewaltigen, expressiven Bilder des bayerischen Malers Franz Hitzler. Eine letzte Ausstellung vor dem Umzug in neue Galerieräume im September widmete sich dem Thema "Tod". 22 Künstler, darunter sehr junge Akademieabsolventen, steuerten Arbeiten bei. Nur wenige Arbeiten spielten dabei mit der christlichen Ikonographie, wie etwa ein Selbstporträt der in Connecticut lebenden Künstlerin Kiki Smith mit ihrer toten Katze, das an eine Pietà erinnerte. Oftmals sind es erst die Führungen, die einen Zusammenhang zu christlichen Traditionen und Bildern herstellen, sagt Gabriele Wurm, Mitarbeitern der Galerie, die die jährlich 5000 Besucher betreut:

"Und auch ich lege Wert darauf, bei den Führungen, das kann auch noch so modern sein, noch so zeitgenössisch, ich schaffe es bei fast jeder Führung, auch auf die Bibel zu kommen und solche Themen anzustoßen und merke an der Reaktion der Leute, die zu meiner Führung kommen, dass es da niemals Ablehnung gibt."

Beobachtet Jean Stock, der evangelisch getauft ist, in seiner ökumenischen Galerie ein unterschiedliches Herangehen von Katholiken und Protestanten an die Kunst?

"Nein, es hat sich sehr angeglichen. Ich würde sagen, was man in der traditionellen christlichen Kirchenbaukunst und christlichen Kunst bis in die Zwischenkriegszeit noch bei den Katholiken gespürt hat, also eher dieses Opulente, die zum Teil zugespitzte Ausstattung, das ist weitgehend verloren gegangen – sieht man dann eben nur noch irgendwo in der Provinz in Spanien oder der Slowakei. Und diese Distanz zum Bild bei den Protestanten – traditionell Wort und Musik stehen im Mittelpunkt der Liturgie – das hat sich auch aufgelöst. Da ist in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr Kunst zugelassen worden."

Pfarrerin Petra Bahr beklagt hingegen, dass Protestantismus auch heute noch oft mit der Bilderstürmerei der radikalen Reformation in Verbindung gebracht wird, obwohl Martin Luther sich seinerzeit für den Erhalt der Bilder eingesetzt habe. Das lutherische Kunstverständnis, sagt Bahr, sei geradezu prädestiniert für den heutigen Umgang mit der Kunst:

"Da ist es so, dass Luther sagen würde: 'Halt es mit den Bildern, wie du willst.' Er war sehr gegen die religiöse Aufladung der Bilder und hat sehr dagegen gekämpft, Bilder direkt anzubeten. Also sie zu verwechseln mit dem, was sie darstellen. Ist ja ganz modern in der Bildtheorie: Bilder verweisen erst mal nur auf sich selbst und auf das, was sie zeigen. Und dann ist entscheidend, wer sie betrachtet und wie man sie betrachtet."

Diesem Kunstverständnis folgt auch Pfarrer Christhard-Georg Neubert in der evangelischen St. Matthäus-Kirche am Berliner Kulturforum, einer von deutschlandweit 21 so genannten "Kulturkirchen", für die die evangelische Kirchen mit einem Reiseführer wirbt. Etwas einsam steht der restaurierte, Mitte des 19. Jahrhunderts von Friedrich August Stüler errichtete Bau zwischen den zahlreichen Museen. Kriegsschäden und Mauerbau haben die Gemeinde massiv dezimiert, bis heute gibt es in der Gegend nur wenige Wohnhäuser.

Christhard-Georg Neubert: "Wir sind hier umgeben von der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, ein Schatzhaus wissenschaftlicher Bibliotheken, auf der anderen Seite befindet sich die Neue Nationalgalerie mit ständig wechselnden Ausstellungen bedeutender Kunst. Dann folgt im Reigen die Gemäldegalerie, also die Kunst von der frühen byzantinischen Malerei bis hin ins 18. Jahrhundert."

Kommen die Kunstbibliothek dazu, das Kupferstichkabinett und die Philharmonie.

Christhard-Georg Neubert: "Mitten drin, im diesem Kranz von Edelsteinen liegt geographisch die St. Matthäuskirche und deswegen hat die Evangelische Landeskirche 1997 beschlossen, hier eine Stiftung zu gründen, eine unabhängige Stiftung, um den Dialog zwischen den Künsten und der Kirche zu führen und zu fördern."

St. Matthäus zeigt regelmäßig wechselnde Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Das Angebot werde gut angenommen, sagt Pfarrer Neubert, der auch Direktor der Stiftung und Kunstbeauftragter der evangelischen Landeskirche in Berlin-Brandenburg ist. Trotz der schwierigen geographischen Lage sind seine Mittagsandachten und sonntäglichen Abendgottesdienste gut besucht. Die Vernissagen ziehen mehr Besucher an als die Galerien in Berlin-Mitte, und auch das Durchgangspublikum lässt sich von der Kunst in St. Matthäus beeindrucken:

(Frau) "Großartig, ich geh hier ab und zu mal rein, schau mir die Ausstellungen an, mir war aber nie klar, dass hier auch Gottesdienste wirklich stattfinden, und dachte, es ist ein Ausstellungsraum, und war jetzt ganz begeistert, dass Menschen zum Gottesdienst gehen." – (Mann) "Diese weißen Wände und dieses Klare, und direkt über dem Altar vorne, das ist alles so richtig gut abgestimmt und man kommt richtig in gute Stimmung."

Natürlich lösen nicht alle Kunstwerke eine solche "richtig gute Stimmung" aus, wie diese Besucher sie angesichts der großflächigen Ölgemälde der Berliner Künstlerin Biene Feld verspürten: Die Bilder der "Schwemmland" betitelten Ausstellung zeigen weite Landschaften, deren Farben Ton in Ton ineinanderfließen und Weite und Licht evozieren. Aber alle Kuratoren beobachten, dass eine Wechselwirkung eintritt, wenn moderne Kunst in den christlichen Kontext tritt.

Christhard-Georg Neubert: "Das macht ja auch den Reiz für die Künstler aus, in einer Kirche sich zu präsentieren, weil sie eben ganz genau wissen: In diesem religiösen Kontext, oder sagen wir einmal: in diesem religiös aufgeladenen Kontext werden ihren Bildern noch einmal andere Seiten abgewonnen."

Wie das konkret funktioniert, erklärt Petra Bahr anhand eines Bildes des Berliner Künstlers Winfried Muthesius, das im Kontext des ökumenischen Kirchentags in U-Bahn-Schächten und an öffentlichen Orten ausgestellt war, aber auch als Altarbild:

"Es ist ein goldenes Quadrat auf Holz, auf dem nichts zu sehen ist außer dieser Goldplatte, in der sich die schroffe Haut der Hölzer leicht abbildet, so dass es unterschiedliche Lichtbrechungen gibt. Aber dieses Bild stellt nichts dar. Gleichzeitig ist es wie ein Blick in ein Fenster und einen unendlichen Raum."

Die Farbe Gold, so Bahr, stehe in der Geschichte des Christentums für die Herrlichkeit Gottes, für das Himmelreich – in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts symbolisiere sie aber auch das Streben nach materiellen Werten, die Gier nach Geld und Macht:

"Wenn man sich dieses Bild über einem Altar vorstellt, hat es sofort einen Kontext, in dem man bestimmte Zugänge sucht. Und dann kann plötzlich ein freies, autonomes Kunstwerk religiösen Sinn stiften, religiöse Unruhe sogar, kann sogar predigen."

Aber selbst in einem kirchlichen Kontext, da sind sich die Kuratoren Neubert und Steinmann einig, wird ein Kunstwerk nicht automatisch zum christlichen Kunstwerk.

Christhard-Georg Neubert: "Es gibt für meine Begriffe – das sage ich jetzt mal ganz zugespitzt – keine christliche und keine nicht christliche Kunst. Es gibt eigentlich nur gute und es gibt schlechte Kunst. Uns interessieren nicht primär die Versuche von Künstlerinnen und Künstlern, ein Christusbild figürlich, gegenständlich nachzuzeichnen, sondern uns interessieren die Antworten von Künstlern und Künstlerinnen auf existenzielle Fragen."

Marc Steinmann: "Wir sagen immer: Wir wissen gar nicht, was christliche Kunst ist. Wenn sich ein Künstler mit Transzendenz beschäftigt, mit Tod, mit Schuld, mit Sühne, dann ist der da bei Themen, die Themen der Kirche sind und damit ist er dann auch irgendwo ein christlicher Künstler, selbst wenn der Mann Atheist ist."

Allerdings wendet sich Kolumba mit der diesjährigen Ausstellung einem dezidiert kirchlichen Thema zu.

Marc Steinmann: "Jetzt werden wir im nächsten Jahr einen großen eucharistischen Kongress in Köln haben und damit spielt die Eucharestie und auch die Liturgie eine große Rolle und das hat uns dazu bewegt, auch mal darüber nachzudenken, wie sieht denn unsere Jahresausstellung in einem solchen Zusammenhang aus. Und damit wird Liturgie, dieser Dienst am Gott wird ein Thema sein. Natürlich nicht, wie hat sich da die Liturgie im Laufe der Geschichte im Kirchenraum entwickelt. Uns interessiert natürlich: Wie weit gibt es liturgische Dinge in Kunst? Inwieweit beschäftigen sich Künstler mit Wandlung und prozesshaften Dingen?"
Mehr zum Thema