Bittere Träume

Von Leonie March · 09.02.2011
Viele mosambikanische Kinder machen sich auf den Weg ins benachbarte Südafrika, um dort zu arbeiten. Manche werden von ihren Eltern an Kinderhändler gegeben, die sie über die Grenze schmuggeln und an südafrikanische Arbeitgeber verkaufen.
Auf den ersten Blick wirkt der Grenzübergang nach Südafrika wie ein belebter Marktplatz: Frauen bieten kalte Getränke, Obst und gebratenes Hühnchen an. Voll besetzte Minibustaxis fahren im Schritttempo vorbei, Koffer, Taschen und Kartons türmen sich auf ihrem Dach. Vor einem lang gestreckten Bungalow stehen die Menschen Schlange. Passkontrolle.

Auf der mosambikanischen Seite wartet Ilundi Polonia Cabral in ihrem Auto auf eine Kollegin. Die dunkelhaarige Frau arbeitet für die Kinderhilfsorganisation "Save the Children", sie leitet das Programm gegen Kinderhandel. Das sei ein großes Problem in ihrem Land, sagt die junge Mosambikanerin.

"Im Durchschnitt werden hier jeden Monat 1200 bis 1500 Menschen in ihre Heimat Mosambik zurückgeführt. Davon sind Schätzungen zufolge 15 bis 20 Prozent Minderjährige, ohne Begleitung eines Erwachsenen. Allerdings muss man dazu sagen, dass das nicht alles Fälle von Kinderhandel sind.

Bislang hatten wir Fälle von Kindern, die als Arbeitskräfte ausgebeutet werden, die sexuell missbraucht oder zwangsverheiratet werden. Sie werden in Haushalten wie Sklaven gehalten, schuften auf Farmen oder Baustellen. Es gibt auch Hinweise dafür, dass sie in Bergwerken arbeiten. Sie schaffen auf der Straße oder in Bars als Prostituierte an und werden mit 13 oder 15 Jahren verheiratet."

Stirnrunzelnd beobachtet Ilundi Cabral, wie ein Mann mit drei Mädchen im Grundschulalter auf einen uniformierten Grenzposten zusteuert. Die Kinder folgen ihm dicht auf den Fersen, um eines hat der Mann den Arm gelegt. Ob zum Schutz oder Kontrolle bleibt unklar. Kinderhandel ist sehr schwer nachzuweisen, seufzt Ilundi Cabral, wendet ihren Blick ab, winkt dann einer älteren Frau in einem schwarzen Kostüm zu. Es ist Lea Boaventura, die für die Kinderhilfsorganisation "terre des hommes" in Mosambik arbeitet. Etwas erschöpft lässt sie sich auf den Beifahrersitz fallen. Auch sie kämpft seit Jahren gegen den Kinderhandel, schaltet sich direkt in die Unterhaltung ein.

"Mosambikanischen Bergleute heiraten diese Mädchen, aber auch Zulu-Männer lieben Frauen aus Mosambik. Es ist also ein einträgliches Geschäft. Ich erinnere mich an ein Mädchen, das nach Südafrika verschleppt und dort für 9000 Rand, umgerechnet 950 Euro, an einen alten Mann verkauft wurde. Eine Rolle spielt außerdem der Organhandel. Wir arbeiten gerade an einer entsprechenden Studie. Wir wissen, dass Organe von traditionellen Heilern gekauft werden, unklar ist jedoch noch die Verwendung in Krankenhäusern zur Transplantation."

Lea Boaventura und Ilundi Cabral verlassen den Grenzübergang, fahren auf der Hauptstraße in Richtung Maputo. Nach etwa 30 Kilometern biegen sie ab. Ihr Ziel: ein Auffanglager für Opfer von Kinderhandel. Die Lage hier in Grenznähe sei ideal, betont Ilundi Cabral. Es liegt im sogenannten Maputo-Korridor, der als Eingangstor nach Südafrika gilt.

"Es ist wichtig, gerade hier ein solches Zentrum zu haben. Es ist die effizienteste Art, Kinder zu erreichen, die ihr Zuhause aus unterschiedlichen Gründen verlassen haben, um anderswo ein besseres Leben zu finden. Südafrika hat den Ruf, ein Eldorado zu sein, ein Weg aus der Armut. Daher träumen auch Kinder von einer Zukunft im reichen Nachbarland. Hier, kurz vor der Grenze, können wir sie entweder auf dem Weg nach Südafrika abfangen, oder aufnehmen, wenn sie von dort abgeschoben wurden."

Eine hohe bunt bemalte Mauer umgibt das Auffanglager, am Eingangstor sitzt ein Wachmann. Windschiefe Tore markieren ein Fußballfeld, nur an ein paar Stellen wächst Gras, Hühner scharren im Sand. Fenster und Türen der Gebäude, der Schlafräume und des Büros sind vergittert. In der Kantine bereitet eine ältere Frau in Kittelschürze gerade das Mittagessen vor. Im Schatten eines großen Mangobaums sitzen fünf Jungen mit einer Frau im Kreis.

Die Kinder wurden vor ein paar Tagen an der Grenze aufgegriffen, erzählt die Sozialarbeiterin. Noch am Morgen haben sie versucht, aus dem Auffanglager auszubrechen. Warum wollt ihr denn unbedingt nach Südafrika, fragt Lea Boaventura, während sie sich auf einen roten Plastikstuhl setzt. Einer der Jungs antwortet selbstbewusst, das wisse doch jedes Kind.

"In Südafrika kann man im Garten oder im Haushalt arbeiten, als Putzhilfe oder Babysitter. Dort gibt es viele Jobs."

Das habe ihnen ein Freund erzählt, der inzwischen selbst in Südafrika lebt. Ob jemand sie begleitet habe, bohrt die Kinderrechtlerin nach. Nein, sagen die Jungs wie aus der Pistole geschossen. Es klingt wie miteinander abgesprochen. Einer von ihnen fügt noch hinzu:

"Er hat, erzählt der Junge, in Maputo Autos gewaschen und so ziemlich viel Geld verdient. Als er genug beisammen hatte, ist er in seine Heimatort gefahren und habe die anderen gefragt, ob sie mit nach Südafrika kommen wollen. So haben sie sich auf den Weg gemacht."

Lea Boaventura wirft ihrer Kollegin einen Blick zu, runzelt die Stirn. Das sei eine neue Masche der Kinderhändler, meint sie, Minderjährige werden rekrutiert, um andere Kinder anzuwerben. In der Regel werden Vermittler vorgeschickt, denen die Familien vertrauen, also Mitschüler, Verwandte oder Nachbarn, in einigen Fällen sogar Lehrer.

"Jeder, der einer Familie verspricht, ihre Kinder mit nach Südafrika zu nehmen, damit sie dort in die Schule gehen oder arbeiten können, bekommt schnell die Zustimmung der Eltern. Meistens wird für die Kinder nicht gezahlt. Im Gegenteil. Oft verlangen die Kinderhändler sogar Geld für den Transport. Sie kassieren dann noch mal, wenn sie die Kinder verkaufen. Das Geschäft wächst, weil es sehr profitabel ist. Es gibt Syndikate mit Verbindungen nach Südafrika und es gibt Fälle von Kindern, die ins weiter gelegene Ausland verkauft wurden. Ich erinnere mich an zwei Mädchen, die zuerst nach Südafrika und dann in den Mittleren Osten verschleppt wurden, um dort als Prostituierte zu arbeiten. Sie stammten aus der muslimisch geprägten Provinz Nampula."

Jedoch sind solche Fälle selten. Wesentlich häufiger bleiben die Kinder in Südafrika oder sie werden innerhalb der Grenzen Mosambiks verkauft. Die Käufer leben in der Hauptstadt Maputo und anderen Großstädten des Landes.

Etwas abseits von der Gruppe unter dem Mangobaum sitzt die neunjährige Lina auf einer Schaukel. Nur ihre Füße bewegen sich, mit den Zehenspitzen zieht sie Kreise im rotbraunen Sandboden. Ein zierliches Mädchen mit kurz geschorenen Haaren und einem verschlissenen roten Pullover. Sie lebt seit mehreren Monaten im Auffanglager. Den Blick gesenkt, fast flüsternd, erzählt sie ihre Geschichte.

"Eine Frau hat sie zuhause abgeholt. Wann genau das war, weiß sie nicht, es ist ziemlich lange her. Sie sagte, dass sie in Zukunft bei ihr wohnen werde. Dort war sie ganz allein für die Hausarbeit zuständig. Aber sie habe nicht alles geschafft. Denn für manches war sie noch zu klein und nicht kräftig genug. Das habe die Frau wütend gemacht. Sie hat sie jeden Tag geschlagen. Irgendwann ist sie geflohen, einfach auf die Straße gerannt. Dort hat sie Polizisten gesehen, ihnen erzählt, was passiert ist, und die haben sie hierhin gebracht."

Zwölf Kinder leben momentan in dem Auffanglager. Für viel mehr ist kein Platz: Es gibt nur einen Schlafraum mit Etagenbetten für die Jungen und ein kleineres Nebenzimmer für die Mädchen. Alle teilen sich zwei Plumpsklos am Rand des Grundstücks. Die Kinder stammen aus allen Provinzen Mosambiks, überwiegend aus armen, ländlichen Gegenden. Im Durchschnitt bleiben sie drei Monate, bevor sie zuhause, bei Verwandten oder in einem Heim untergebracht werden können.

Mehrere Kinderhilfsorganisationen arbeiten Hand in Hand mit der Regierung, koordinieren Workshops und Seminare, um das Bewusstsein der Beamten und in der Bevölkerung zu schärfen. Jeden Monat treffen sich Kinderrechtler in der Hauptstadt Maputo, um sich auszutauschen und ihre Initiativen zu koordinieren. Mit am Tisch sitzt Carlos Mamjate, Gründer der mosambikanischen NGO "Rede Came", ein Pionier im Kampf gegen den Kinderhandel.

"Wir haben Aufklärungsmaterial in den verschiedenen einheimischen Sprachen entwickelt. Darin erklären wir das komplizierte Konstrukt des Menschenhandels so, dass es für Eltern und Kinder verständlich wird. Wir müssen konkret beschreiben, was wir unter Ausbeutung und Missbrauch verstehen. Dabei richten wir uns auch an die Familien in Mosambik, denen es wirtschaftlich besser geht. Denn sie sind es, die ja die Kinder in ihren Haushalten und Unternehmen ausbeuten. Wir haben noch viel zu tun, um in unserer Gesellschaft ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was Ausbeutung bedeutet."

Dass Kinder eigene Rechte haben, ist eine relativ neue Sichtweise in Mosambik. Zwar hat das südostafrikanische Land die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben. Wie in vielen anderen Staaten der Welt mangelt es jedoch an der Umsetzung und Kontrolle. Zudem seien die verbindlichen Rechte großen Teilen der Bevölkerung nicht bekannt. Die Wurzeln des Problems lägen in der Geschichte Mosambiks.

"Der 16 Jahre dauernde Bürgerkrieg hat alles zerstört. Wir müssen erst das soziale Gewebe wieder herstellen. Wir haben vergessen, was Rechte überhaupt bedeuten. Vor 1975 war unsere Gesellschaft friedlich, aber kurz nach der Unabhängigkeit wurden Lebensmittel und Arbeitsplätze knapp. Damit nahm auch der soziale Schutz durch die Gemeinschaft ab. Die Generation, die im Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1992 aufgewachsen ist, kennt nichts anderes. Für sie ist es normal, dass Kinder ihre eigene Überlebensstrategie finden und lernen, irgendwie mit den Risiken zurechtzukommen."

Maputo, die Hauptstadt Mosambiks. Graue Hochhäuser, erbaut nach sozialistischem Vorbild, dazwischen Villen aus der portugiesischen Kolonialzeit, teilweise bis auf die betonierten Grundmauern verfallen, teilweise frisch renoviert. Auf den staubigen Bürgersteigen bieten Händler ihre Waren feil: Gemüse und Obst, Kunsthandwerk und bunt bedruckte Tücher. Voll besetzte Minibustaxis, teure Geländewagen und motorisierte Rikschas drängen sich im dichten Verkehr.

Direkt an einer belebten Kreuzung liegt eine Polizeistation. Der Straßenlärm ist auch noch im Hinterhof zu hören. Hier hat Lurdes Mabunda ihr Büro, sie leitet die Abteilung für Frauen und Kinder der mosambikanischen Polizei. Bei den Hilfsorganisationen gilt die attraktive Beamtin als starke Verbündete bei der Bekämpfung des Menschenhandels. Offen spricht sie die Probleme der Polizei im Umgang mit diesem Verbrechen an:

"Die NGOs haben recht, wenn sie kritisieren, dass trotz der klaren Gesetzgebung bislang noch kein Menschenhändler verurteilt worden ist. Das Verbrechen ist sehr komplex und daher schwer nachzuweisen. Es hat mehrere Elemente, die alle einzelne Strafbestände darstellen: Die Kinder werden angeworben, verschleppt und ausgebeutet. Meistens werden Täter nur für einen dieser Aspekte verurteilt, nicht aber wegen Menschenhandels. Erschwerend kommt hinzu, dass die Opfer die Täter oft aus Angst oder Unwissenheit decken. Es gibt dann kaum belastende Aussagen. Außerdem kämpfen wir gegen Korruption an unseren Grenzen. Die Menschenhändler verfügen über genügend Mittel, um die Beamten zu schmieren und das macht die Sache natürlich nicht einfacher."

Mosambik, das als eines der ärmsten Länder der Welt gilt, stößt an seine Grenzen. Über die Hälfte der Mosambikaner lebt unterhalb der Armutsgrenze, die Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land. Neben gut ausgebauten Straßen, Versorgung mit Strom und Wasser, fehlt es vielerorts auch an weiterführenden Schulen. Das Geschäft mit dem Kinderhandel kann daher nur wirksam bekämpft werden, wenn sich die Lebensbedingungen ändern.