Biografie eines Herausragenden

Rezensiert von Wilhelm von Sternburg · 01.03.2009
Vor dem Hintergrund einer zu Ende gehenden Epoche schildert der Historiker Lothar Gall das Leben von Walther Rathenau. Der Außenminister der Weimarer Republik entwickelte sich vom Monarchisten zum skeptischen Demokraten und erkannte hellsichtig die Aussichtslosigkeit, den Ersten Weltkrieg zu gewinnen. Sein Lebensweg war Spiegelbild der sich abzeichnenden "Moderne", wie Gall herausstellt.
Die Meldung in der Extraausgabe des sozialdemokratischen "Vorwärts" vom 24. Juni 1922, die nur eine Stunde nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau erscheint, endet mit dem Aufruf: Massen, haltet Euch bereit! Wenig später gehen in Berlin Hunderttausende auf die Straße.

Es ist das letzte Mal, dass sich das demokratische Lager der Weimarer Republik - von der SPD bis zum katholischen Zentrum - auf beeindruckende Weise zu Wort meldet. Reichskanzler Joseph Wirth erklärt am nächsten Tag im Reichstag: "Da steht der Feind - und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!" Rathenau, von Mitgliedern der Legion Consul, auf offener Straße mit einem Maschinengewehr niedergeschossen, wird für einen Augenblick zum Symbol eines von Bürgerkrieg und wirtschaftlichem Verfall heimgesuchten Landes.

Seine Mörder, junge fanatisierte Rechtsradikale, sind Antisemiten und Nationalisten. Ihre geistigen Väter sitzen in den Reihen der Völkischen, der Deutschnationalen und der Reichswehr. Gut zehn Jahre später wird ihr Hass auf die Demokratie mit Erfolg gekrönt: Deutschland wird eine Diktatur.

Walther Rathenau, 1867 in Berlin geboren, ist der älteste Sohn des Industriellen Emil Rathenau. Der Vater gehört zu den herausragenden deutschen Wirtschaftsführern der zweiten industriellen Revolution. Innerhalb kürzester Zeit hat er mit der Gründung der AEG einen Elektrokonzern geschaffen, der rasch Weltgeltung erlangt. Der Sohn, reich, begabt und sensibel, wird, wie sein Biograf Lothar Gall schreibt, sein ganzes Leben auf der Flucht vor dem Schatten dieses so erfolgreichen Vaters sein.

Was er unternimmt, es ist immer auch Abwehr gegen diese überragende Gestalt. Der Sohn wird Unternehmer, Publizist, Dichter, Politiker, Freund von Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal, von Richard Strauss und Edward Munch. Er baut sich herrliche Häuser und begleitet die kulturelle Moderne mit leidenschaftlichem Engagement.

Musik, Dichtung, Malerei, Architektur - kein Feld, das nicht sein Interesse weckt, ihn nicht zu publizistischen Ausflügen in die Welt der Kunst anregt. Er schreibt Aufsätze und Bücher, mit denen er auf die großen Fragen der Zeit antworten will. Er sitzt in unzähligen Aufsichtsräten und arbeitet im Vorstand diverser Banken. Er wird in den wilhelminischen Jahren Berater des Kolonialministeriums, im Ersten Weltkrieg Leiter der Kriegsrohstoffabteilung und in der Weimarer Republik Außenminister.

Er ist ein glühender deutscher Patriot und rät seinen jüdischen Mitbürgern in einem seltsamen Aufsatz, den Weg der totalen Assimilation zu gehen. Man diskutiert seine Veröffentlichungen, streitet über seine Thesen und ist geblendet von seinem Reichtum. Und doch: Nie wird dieser rastlose Mann das Gefühl besiegen, nur ein Kronprinz zu sein.

Er ist nicht frei von elitärem Hochmut, zugleich begegnet ihm seine Umwelt jedoch mit kaum weniger hochmütiger Skepsis, ja teilweise mit Ablehnung. Lothar Gall zitiert in diesem Zusammenhang eine wenig freundliche Bemerkung Hugo von Hofmannsthals:

"Die Begegnungen waren sehr gleichförmig und mehr erschwerend als erfreulich."

Bei den vielen schillernden Urteilen über Rathenau spielen allerdings Neid auf seinen ihm Unabhängigkeit gewährenden Reichtum und antisemitische Klischeevorstellungen zweifellos eine nicht unbedeutende Rolle. Aber Gall schreibt zu Recht:

"Rathenau begann jene Doppelexistenz als zunehmend erfolgreicher Mann der Wirtschaft, der Industrie wie des Bankwesens und als ein Vertreter des geistigen, des kulturellen und künstlerischen Lebens, in dem er sich durch seine schriftstellerische Tätigkeit zunehmend einen Namen machte - eine Doppelexistenz, die sein ganzes weiteres Leben charakterisierte, ihn freilich hier und dort zugleich zu einer vielfach umstrittenen Figur werden ließ.

Dass er im weiteren beide Bereiche dieser Doppelexistenz aufeinander zu beziehen und miteinander in Einklang zu bringen versuchte, macht ihn interessant, aber zugleich für die Zeitgenossen in beiden Lagern, dem der Wirtschaft und dem des kulturellen Lebens, auch verdächtig."

Lothar Galls ausgezeichnetes Buch ist keine klassische Biografie. Der Autor zeichnet nicht vorrangig das Lebensbild Walther Rathenaus, sondern - wie der Untertitel ankündigt - das Porträt einer Epoche. Der Historiker Gall kehrt damit ein weiteres Mal zu dem Thema zurück, das schon seit Jahren im Zentrum seiner Forschungsarbeit steht: der Entwicklung des Bürgertums im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In der Einleitung schreibt er:

"Die Gestalt Walther Rathenaus mit allen ihren Leistungen und Schwächen lässt sich nicht nur als individuelle Persönlichkeit, sondern zugleich als eine Symbolfigur und als Repräsentant der Ambivalenzen einer ganzen Auf- und Umbruchsepoche betrachten und darstellen, eben jener rund zwanzig Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das ist der Weg, der in diesem Buch beschritten wird. Dabei soll zunächst einmal, jenseits der individuellen Biographie, die Epoche ins Auge gefasst werden, in der Rathenau wirkte und die seine Grundauffassung bestimmte."

Gall erfüllt sein Versprechen. Im ersten Teil seines Buches gibt er einen kenntnisreichen Überblick über das, was schon damals mit dem Begriff "Moderne" bezeichnet wird. Er schildert den Aufbruch der Malerei, der Musik, der Dichtung und der Architektur, der die Jahrhundertwende prägt. Er erzählt von einer bürgerlichen Elite, die der Monarchie schon kritisch gegenübersteht und deren beste Geister erkennen, dass die Gesellschaft von morgen ohne Sozialreformen nicht sicher wird leben können.

Jugend- und Lebensformbewegung, die Herausbildung der Angestelltenklasse, das Bildungsbürgertum, das die Kultur und Lebensweise des Adels zu überwinden versucht - eine Gesellschaft beginnt sich zu erneuern. Fortschrittsgläubig und idealistisch in ihren Anfängen, immer gewaltbereiter und von omnipotenten nationalen Ideen beseelt am Ende, als sich der Abgrund des Ersten Weltkriegs öffnet.

"Tragender Gedanke bei all dem aber war die übergreifende Idee einer grundlegenden Erneuerung der Gesellschaft insgesamt aus dem Geist des bürgerlichen Aufbruchs seit dem ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Anders gewendet, es war die gemeinsame Überzeugung der Wortführer dieser sich neu formierenden Richtung und Bewegung, dass die eigentlichen, die wesentlichen Ziele dieses Aufbruchs noch nicht erreicht worden seien. Sie seien noch nicht erreicht worden durch die klassenmäßige Verhärtung nackter materieller Interessen und durch die Preisgabe der Idee einer der auf den Menschenrechten gründenden, prinzipiell klassenlosen Bürgergesellschaft. Zu einer solchen Gesellschaft müsse man gelangen."

Walther Rathenau ist einer der Repräsentanten dieser "bürgerlichen Moderne". Vom Monarchisten entwickelt er sich zum skeptischen Demokraten. Hellsichtiger als die meisten seiner Zeitgenossen sieht er, dass der im September 1914 ausbrechende Weltkrieg angesichts der Rohstofflage des Deutschen Reiches nicht zu gewinnen ist und dass eine Niederlage zu einer Zerstörung des Jahrhunderte geltenden europäischen Machtgefüges führen muss.

Und was für seine Zeit gilt, trifft auch auf sein eigenes Leben zu: begabt und mächtig bleibt er doch zeitlebens ein Schwankender. Wirtschaft, Politik, Kunst - er bleibt der Suchende und Zweifelnde. Gall zitiert aus einer Broschüre Rathenaus, die im Juni 1918 erschienen ist, eine Textstelle, die seine wachsende Resignation deutlich macht:

"Den Genossen meines Alters habe ich nicht mehr viel zu sagen. Mein Herz habe ich vor ihnen ausgeschüttet, mein Glaub und Schauen, Vertrauen und Sorgen ihnen vor die Seele gehalten. Viele haben meine Schriften gelesen, die Gelehrten, um sie zu belächeln, die Praktiker, um sie zu verspotten, die Interessenten, um sich zu entrüsten und sich ihrer eigenen Güte und Tugend zu erfreuen."

Das jüngste Buch über Rathenau stammt nicht aus der Feder eines Psychoanalytikers, sondern eines sein Metier glänzend beherrschenden Historikers. Das hat den Nachteil, dass der Leser nicht allzu viel vom Menschen Rathenau erfährt, seine jüdischen Selbstzweifel, sein Außenseitertum, seine sozialen Phobien, pauschal gesagt, das private Leben dieses Zeitgenossen der aufbrechenden Moderne nur gestreift wird. Der Gewinn ist aber nicht gering: Galls Deutung dieser für die Geschichte Europas so bedeutungsvollen Epoche ist bestechend.

Lothar Gall: Walther Rathenau. Porträt einer Epoche
C. H. Beck Verlag, München 2009
Lothar Gall: Walther Rathenau. Porträt einer Epoche
Lothar Gall: Walther Rathenau. Porträt einer Epoche© C.H. Beck Verlag