Bildungsforscher: Getrennte Schulformen sind der falsche Weg

Ernst Rösner im Gespräch mit Katrin Heise · 14.09.2011
"Immer mehr Eltern wünschen für ihre Kinder Schulen, die auch gymnasiale Standards enthalten", sagt der Bildungsforscher Ernst Rösner. Deshalb warnt er vor dem Zwei-Wege-Modell der CDU, das neben Gymnasium eine Oberschule, die Haupt- und Realschule vereint, vorsieht. Wenn man gymnasiale Standards ausklammere, schaffe man eine neue "Restschule".
Katrin Heise: Die CDU steht bildungspolitisch vor einem Paradigmenwechsel: Sie will die Hauptschule abschaffen. Das muss den Parteifunktionären aber gut erklärt werden vor dem CDU-Parteitag im November, auf dem ein entsprechender Beschluss gefasst werden soll. Zu diesem Aufklärungs- und Diskussionsprozess gibt es CDU-Bildungskonferenzen, heute findet die zweite dieser Art in Wiesbaden statt, und die Kritik an der Abschaffung der Hauptschule ist gerade aus Hessen und Baden-Württemberg sehr massiv. Ich begrüße Ernst Rösner, er ist Bildungsforscher am Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund. Schönen guten Tag, Herr Rösner!

Rösner: Schönen guten Tag, Frau Heise!

Heise: Womit würden Sie die CDU-Funktionäre überzeugen, in Ihrem Wahlkreis in Hessen die Hauptschule abzuschaffen?

Rösner: Na, ich würde mal eine große Versammlung einberufen und würde dann fragen: Wer möchte sein Kind freiwillig zur Hauptschule schicken? Und die, die dann aufzeigen, sollen dann einen Hauptschulplatz kriegen, und die, die nicht aufzeigen, schicken ihr Kind woanders hin. Damit ist klar, wie die Bedarfslage in der Elternschaft ist: Die Hauptschule ist abgewählt.

Heise: Bildungspolitiker der CDU verweisen ja auch immer wieder ganz gerne auf gute Hauptschulen, und an einer guten Hauptschule gibt es dann auch Abgänger, die eine Lehre bekommen beispielsweise, weil ihnen gemäß unterrichtet wird. An die müsste man aber auch ran.

Rösner: Ja, das muss man konsequenterweise dann tun. Die Variationsbreite der Hauptschulen in Deutschland ist gigantisch, Sie haben also von der damaligen Rütli-Schule bis hin zu sehr guten funktionierenden Hauptschulen im Bayrischen Wald alles Erdenkliche an Qualität, also insofern kann man nicht von der Hauptschule sprechen. Nur, alle Hauptschulen haben eine Gemeinsamkeit: Sie bekommen immer weniger Schüler. Und der Trend ist auch politisch nicht aufzuhalten.

Heise: Das heißt, Sie argumentieren vor allem, ja, ich sage mal funktional, also wahrscheinlich etwas, was auch jeden Bürgermeister, der über Schulstandorte zu entscheiden hat, wahrscheinlich schon überzeugt hat, denn unter uns gesprochen, die sind in der Realität auch zum Teil viel weiter als die politische Diskussion. Also bis zum Jahr 2020 wird es zirka 1,8 Millionen Schüler weniger geben. Demografisch gesehen gibt es also zur Abschaffung der Hauptschule Ihrer Meinung nach überhaupt keine Alternative?

Rösner: Also wenn man zum Kriterium für den Fortbestand von Schulen macht, dass sie bedarfsgerecht sind, und zwar in erster Linie bedarfsgerecht mit Blick auf das, was die Eltern wünschen, in zweiter Linie auch das, was volkswirtschaftlich vernünftig ist – wir brauchen ja hochqualifizierte Kräfte –, dann gibt es zur Abschaffung der Hauptschule keine Alternative. Und man kann diese Abschaffung jetzt politisch begleiten, politisch steuern, moderieren, oder man wartet ab, bis alles den Bach runtergegangen ist – dieser Prozess ist unvermeidlich. Ich bin für Gestaltung des Bildungswesens und nicht für die Anpassung an das Unabänderliche.

Heise: Jetzt ist gerade die Bildungsvielfalt ein hohes Gut für die CDU. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier wird zitiert mit folgender Aussage: "Eine Partei, die ihr Selbstverständnis vom christlichen Menschenbild herleitet, muss für die Vielfalt von Bildungsangeboten stehen und kann nicht alle Kinder in eine Schulform stecken." Was antworten Sie Herrn Bouffier?

Rösner: Ja, da bin ich aber doch sehr erstaunt, dass er damit sozusagen den Christen im europäischen Ausland eine menschenverachtende Position unterstellt, indem sie für ihre Kinder Schulen des gemeinsamen Lernens eingeführt haben. Also um nicht missverstanden zu werden: Ich bin strikt gegen Einheitsschule. Das ist aber ein Popanz, der immer aufgebaut wird sozusagen: Das ist dann die böse Schwester der Schule des gemeinsamen Lernens. Keiner will eine Einheitsschule, Kinder müssen gemäß ihren Möglichkeiten individuell gefördert werden. Dazu brauchen wir aber nicht drei oder vier Schulen nebeneinander, sondern das lässt sich wunderbar und sehr erfolgreich auch in einer gemeinsamen Schule schaffen.

Heise: Ja, bleiben wir mal ein bisschen bei dieser individuellen Ausrichtung, denn tatsächlich verstehen Menschen ja oft nicht, wie Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen – und das ist ja nun mal Fakt –, wie diese Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen an einer Oberschule – so wird ja oft dieser Schultyp neben dem Gymnasium genannt –, an einer Oberschule unterrichtet werden soll, wenn das Niveau auf der einen Seite einem ehemaligen Hauptschüler und auf der anderen Seite einem ehemaligen Realschüler entspricht.

Rösner: Mir ist das sehr vertraut, dieses Argument, und es ist mir auch deshalb vertraut, weil ich ja einer Generation angehöre, in der es selbstverständlich war, dass Klassen und Fächer unterrichtet wurden, aber weniger Schülerinnen und Schüler. Das heißt also, wir müssen uns darauf einstellen, nach dem Vorbild des erfolgreichen Auslandes zu überprüfen, was jedes einzelne Kind in seiner Klasse leisten kann, schaffen kann, wo es gefördert werden muss und wo es Unterstützung braucht, aber wo man auch höhere und schwierigere Aufgaben stellen kann. Das heißt, wir müssen die individuellen Leistungen der Kinder in den Fokus stellen und fragen: Wie werden wir den unterschiedlichen Kindern gerecht? Das ist eine hohe Anforderung, aber sie ist machbar, das zeigt uns das Ausland, das geht, und die Erfolge sind hervorragend.

Heise: Im Deutschlandradio Kultur hören Sie Bildungsforscher Ernst Rösner. Herr Rösner, das CDU-Papier sieht das Gymnasium vor und eine Oberschule, die dann Haupt- und Realschule miteinander vereint. Das reicht Ihnen aber eigentlich nicht aus als zweite Schulform.

Rösner: Ja, das Problem ist, dass die CDU damit eine weitere Entscheidung vor sich herschiebt. Wir haben einen Megatrend in Deutschland beim Schulwahlverhalten der Eltern, und in den meisten Bundesländern dürfen die Eltern ja frei entscheiden, und der lautet: Immer mehr Eltern wünschen für ihre Kinder Schulen, die auch gymnasiale Standards enthalten, entweder in der Reinform Gymnasium, oder in der Schule des gemeinsamen Lernens, prominent ist da die Gesamtschule. Diesen Elternwunsch und diese Elterndisposition, die sehr rational ist, weil sie wichtig ist im Hinblick auf die berufliche Verwertbarkeit von Schulabschlüssen, diese ist politisch nicht zu beeinflussen. Wenn man jetzt also hingeht und neue Schulen macht und aus dieser neuen Schule die gymnasialen Standards ausdrücklich ausklammert und sagt, das ist Sache des Gymnasiums – Klammer auf, oder der Gesamtschulen, die sind ja auch von der CDU inzwischen weitgehend akzeptiert, Klammer zu –, dann schafft man wiederum, zeitversetzt, eine neue Restschule. Und das ist das Problem, und da meine ich ist die CDU an dieser Stelle zu kurz gesprungen. Wir haben wunderbare Beispiele, wie beispielsweise in Schleswig-Holstein die dortigen Gemeinschaftsschulen, es sind inzwischen 135, … Die sind parteipolitisch völlig unumstritten auf kommunaler Ebene. Wenn man gesagt hätte, wir gehen diesen Weg, dann hätte man langfristig in der Bildungspolitik erstens eine Kompromisslinie und zweitens Ruhe.

Heise: Oft wird das Argument Bildungsgleichheit gleich Aufstiegschance ja genommen, also das heißt, wenn die Kinder in einer Schule eben verschiedenste Schulabschlüsse machen können, dann werden die da auch gemacht. Der Soziologe Heinz Bude beklagt, dass eine Änderung von Strukturen alleine nicht viel bringe, in der "Frankfurter Rundschau" schrieb er vor Kurzem: "Den 20 Prozent eines Jahrgangs, die heute als Bildungsverlierer behandelt werden, ist mit einer Änderung des Bildungssystems wenig geholfen." Seine Begründung lautet, die schwächeren Schüler würden auch an einem zweigliedrigen Schulsystem nur solche Abschlüsse erreichen, die, Zitat, "kein belastbares Aufstiegsversprechen" enthalten. Ist die Angst um einen Etikettenschwindel nicht tatsächlich auch berechtigt?

Rösner: Ich denke, mit dieser Argumentation wird auch wiederum sehr verkürzt etwas dargestellt: Hier wird mal wieder Struktur gegenüber Unterrichtsinhalten ausgespielt. Das darf man nicht machen. Strukturen sind selbstverständlich kein Selbstzweck im Schulsystem, sie werden oft so diskutiert, aber das ist Unfug. Strukturen haben eine dienende Funktion, sie müssen dafür sorgen, dass die Handlungsspielräume für die Lehrkräfte in den Schulen so breit gesteckt werden, dass man modernen Unterricht machen kann. Das eine geht nicht ohne das andere. Also Strukturen ohne inhaltliche Reform ist Unsinn, eine inhaltliche Reform anzustreben, ohne die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, ist genauso Unfug. Beides sind zwei Seiten einer Medaille.

Heise: Wie nehmen Sie eigentlich die Lehrerschaft mit? Sie haben eben gerade den modernen Unterricht angesprochen. Jetzt sind ja nun wirklich nicht alle Lehrer davon überzeugt, dass das in einem zweigliedrigen Schulsystem möglich wäre.

Rösner: Na ja, irgendetwas, was alle Lehrkräfte in Deutschland überzeugt, werden Sie nicht finden, also das ist schon mal völlig ausgeschlossen.

Heise: Ja, ich glaube, man könnte sie überzeugen, indem man einfach mal weniger Reformen durchpaukt.

Rösner: Also ich glaube, man kann sie überzeugen, wenn man Lehrkräften zeigt, wie es in guten Schulen funktioniert, also Lehrkräfte lassen sich nicht überzeugen durch Leute wie mich, die von Hochschulen kommen, lassen sich nicht überzeugen durch kluge Bücher, aber Lehrkräfte lassen sich sehr gut überzeugen, wenn sie mal in Schulen gewesen sind, mal Besuche gemacht haben und gesehen haben: Mein Gott, es geht ja auch anders, und das, was anders gemacht wird, verläuft sogar besser im Ergebnis. Selbstverständlich müssen auch die Erstausbildungen der Lehrkräfte darauf abgestellt werden, das heißt, wir müssen sehr viel stärker als früher Lehrer qualifizieren, den einzelnen Schüler, die einzelne Schülerin in den Fokus zu nehmen und nicht zu glauben, irgendein klasseninterner Durchschnittswert sei der Maßstab des Handelns. Das geht nicht mehr.

Heise: Das klassische dreigliedrige Schulsystem, das gibt es ja so weit ich weiß eigentlich nur noch in Bayern, überall sonst hat sich neben dem Gymnasium ja eine neue Schulform entwickelt, die heißt dann eben Oberschule, Regelschule, Sekundarschule, Mittelschule, Realschule plus oder Regionalschulen, dazu kommen Gesamtschulen oder Gemeinschaftsschulen. Wer blickt da eigentlich noch durch, Sie, Herr Rösner?

Rösner: Gott sei Dank einigermaßen, aber das liegt daran, dass es mein Beruf ist und auch mein Interessenschwerpunkt ist. Man kann die Sache vereinfachen, man kann sagen: Es gibt neben dem Gymnasium Schulen des gemeinsamen Lernens mit gymnasialen Inhalten und ohne gymnasiale Inhalte. Das ist die große Trennungslinie, so, und danach kann man sie zuordnen. Und meine Prognose ist: Alles, was keine gymnasialen Lerninhalte anbietet, wird auf der Verliererstraße landen, wenn es nicht da schon ist, und alles, was gymnasiale Inhalte auch anbietet, wird sich langfristig vermutlich behaupten. Es ist eine Erwartung, aber ich vermute, es wird so laufen. Aber ich gebe Ihnen an einem Punkt uneingeschränkt recht: Diese Eigenwilligkeit der Bundesländer, ständig mit neuen Begrifflichkeiten aufzuwarten – Parteien können das ja auch –, das hat wirklich nicht dazu beigetragen, das bundesdeutsche Schulsystem überschaubarer zu machen. Es ist einfach in seiner jetzigen Verfasstheit – 16 Länder, 16 verschiedene Schulsysteme – eine Vielzahl von Begriffen. Es ist unzumutbar für Eltern.

Heise: Beklagt Ernst Rösler, Bildungsforscher am Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund. Herr Rösner, danke schön für dieses Gespräch!

Rösner: Bitte sehr!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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