Bildersuche auf gespenstischen Wegen

26.04.2011
Aby Warburg hat sich zeitlebens der Antike und deren Nachleben in Bildern gewidmet. Im gleichnamigen Buch zeichnet der französische Autor Georges Didi-Huberman das Leben des wichtigsten deutschen Kunsthistorikers nach.
Die von Aby Warburg in Hamburg eingerichtete Kulturwissenschaftliche Bibliothek umfasste 1933, als sie auf Veranlassung seines Nachfolgers Felix Saxl nach London transportiert wurde, etwa 60.000 Bände. Nach Hitlers Machtergreifung waren die Bücher in Gefahr. Der jüdische Bankierssohn Aby Moritz Warburg (geb. 1866) hatte die Bibliothek bis zu seinem Tod im Jahr 1929 mit der finanziellen Unterstützung seines Bruders zusammengestellt, um sich dem Hauptproblem seiner Forschung, dem Nachleben der Antike, widmen zu können.

Das "Nachleben der Bilder", so lautet der Titel von Georges Didi-Hubermans umfangreicher Studie über Aby Warburg. Bereits mit dem Titel stellt der französische Kunsthistoriker die Bedeutung des Begriffs "Nachleben" in Warburgs Werk heraus. Dem "Nachleben", so macht Didi-Huberman deutlich, ist bei Warburg Geschichte immanent.

Doch Warburgs Geschichtsverständnis liegt kein chronologisches, sondern vielmehr ein "anachronistisches" Zeitverständnis zugrunde. Sein Interesse gilt den totgeglaubten Dingen, die aber dennoch, und noch dazu besonders wirkungsvoll, im Gedächtnis spuken. In Warburgs Verständnis steht deshalb das Nachleben quer zu geradlinig verlaufenden Zeitvorstellungen. Er hat nach den "verschwundenen Gespenstern" gesucht, nach Gespenstern, die im Bild zwar vorhanden, aber wiederentdeckt werden müssen.

Was damit gemeint ist, macht Didi-Huberman an der Laokoon-Gruppe deutlich, wobei er einen zweiten, mit Warburgs Namen eng verbundenen Begriff näher untersucht. Mit der "Pathosformel" bezeichnet Warburg eine für die Antike typische Ausdrucksform, die im weiteren Verlauf in der Kunstgeschichte aufgegriffen und tradiert wird. Solche Formeln, so hat es Ernst Cassierer mit Blick auf Warburg formuliert, haben sich dem "Gedächtnis der Menschheit eingeprägt", wobei es Warburg als seine Aufgabe angesehen hat, diese im Verborgenen vorhandenen Formeln ausfindig zu machen. Überzeugend stellt Didi-Huberman eine Beziehung zwischen Warburgs Lektüre von Charles Darwins Buch "Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren" und dem tragischen Schmerz im Ausdruck des Laokoon her.

Im Hinblick auf das Nachleben würde sich, so Didi-Huberman, in der zum Ausdruck gebrachten Schmerzerfahrung Laokoons ein "Residuum primitiver körperlicher Reaktionen" zeigen und Spuren von Primitivität würden in ihren fundamentalsten Formen in Laokoons Schmerzensausdruck nachleben.

Ausgehend von dieser Ausdrucksbewegung wendet sich Didi-Huberman dann dem "bewegten Beiwerk" zu, einem dritten, für Warburgs Werk seit der Dissertation über Botticellis "Frühling" zentralen Begriff. Mit dieser Schrift beginnt eine Akzentverlagerung in der kunstwissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Warburg, der sich in Botticellis "Frühling" für das wehende Haar und das bewegte Gewand interessiert, vermag nachzuweisen, wie im "seelenlosen Beiwerk" antike Quellen nachleben, die von Homer über Ovid bis zu einem Preislied von Poliziano reichen.

Didi-Huberman hat ein kenntnisreiches und hoch ambitioniertes Buch über das Nachleben der Bilder in Warburgs Forschungsarbeiten geschrieben, wobei er Warburg folgt, als wäre er – wie Didi-Huberman sagt – ein "Gespenst". Die Wege, die er dabei einschlägt, sind manchmal mehr als gespenstisch, weil das Vorstellungsvermögen des Lesers extrem in Anspruch genommen wird. Keine leichte Lektüre, eher eine intellektuelle Herausforderung, die einem Warburg näher bringt, wenn man sich bei dem Erneuerer der Kunstwissenschaft bereits gut auskennt.

Besprochen von Michael Opitz

Georges Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg
Aus dem Französischen von Michael Bischoff
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
646 Seiten, 44,90 Euro
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