Biedermeier-Dichter

Rezensiert von Wolfgang Schneider · 24.10.2005
Adalbert Stifter ist der paradigmatische Autor jener Epoche, die man als Biedermeier oder Restaurationszeit bezeichnet. Äußerlich gebändigt und befriedet, innerlich voll gärender Unruhe. Ein Mensch mit extremen, destruktiven, ans Psychopathische grenzenden Zügen, der sich zu humaner Klarheit durchringen möchte. Schwermut durchzieht sein Werk, das sich oft heiterer gibt, als ihm zukommt. Die Leichtigkeit des Seins lässt sich hier nicht studieren.
Stifters lesen – da taucht man weg in eine eigentümlich faszinierende, manchmal tief anrührende, manchmal befremdliche, verschrobene Welt. Man liest in diesen Erzählungen, die oft den Umfang kleiner Romane haben, von Waldgängern, Hagestolzen und anderen Sonderlingen, von närrischen Künstlern und heiligmäßigen Landpfarrern, von Kindern, die sich in der Einöde des winterlichen Hochgebirges lebensgefährlich verirren, aber auch von einer überraschend emanzipierten Frau wie der Titelfigur der Erzählung "Brigitta".

Thomas Mann rühmte Stifter als "einen der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur". Kafka verehrte ihn, Nietzsche erholte sich bei seinem gedämpften Stil von den rauschhaften Wirkungen Wagners, heutige Beschreibungskünstler wie Peter Handke und Brigitte Kronauer schätzen ihn hoch. Thomas Bernhard hat ihn in "Alte Meister" als provinziellen Stümper und Philister geschmäht, aber das sind ziemlich platte Vorwürfe, die nicht darüber hinwegtäuschen können, dass gerade Bernhard in der Nachfolge Stifters steht. Man lese nur den Anfang von Stifters Erzählung "Nachkommenschaften". Ein Kunst-Spott fast im monomanischen Bernhard-Originalton.

Während Stifters Romane – "Der Nachsommer" und "Witiko" – aufgrund ihres erheblichen Umfanges und des weitgehenden Verzichtes auf Handlung etwas für Leser sind, die sich bereits mit der Stifter-Welt angefreundet haben, bieten seine 33 Erzählungen (insbesondere in den Fassungen der Erstdrucke) durchaus Geschehen, Konflikte, Charaktere. Sie machten Stifter berühmt, und in ihnen zeigt sich am deutlichsten die Entwicklung des Autors, von den an Jean Paul und der Romantik geschulten Anfängen bis hin zum äußerst spröden Spätwerk.

35-jährig debütierte Stifter 1840 mit der Erzählung "Der Condor", mit der er sogleich Aufsehen erregte und zum Wiener Modeautor avancierte. Kein Wunder, beschrieb er in der Geschichte doch eine brisante Pionierleistung der modernen Technik: eine kühne Ballonfahrt, die eine Dame mit ihrem Begleiter unternimmt. Bald entwickelte Stifter sich zu einem der größten Landschaftsschilderer der deutschsprachigen Literatur. Eine Naturphantasmagorie à la Caspar David Friedrich entsteht vor unseren Augen, wenn wir die Beschreibung des Bergsees in "Der Hochwald" lesen, die mit vielen signalhaft bedrohlichen Untertönen arbeitet und damit auf die spätere Katastrophe der Geschichte vorausweist: die Zerstörung eines Ortes durch Kampfhandlungen des Dreißigjährigen Krieges.

Enttäuscht von der Revolution 1848 und als Autor, der kompromisslos seinen eigenen Weg ging, immer angefeindeter und unverstandener, verfiel der ebenso cholerische wie korpulente Stifter der Schwermut und erkrankte schließlich unheilbar an Leberzirrhose. Anfang 1868 setzte der Verfechter des "sanften Gesetzes" seinem Leben mit dem berühmten Rasiermesserschnitt durch die Kehle ein Ende. Keine Aktualisierung Stifters, die nicht mit diesem verzweifelten Selbstmord beginnt, als wäre er eine Leistung, die den Autor am ehesten für die Moderne tauglich macht.

Nun ist es tatsächlich so, dass man Stifter gegen seine Verharmlosung in Schutz nehmen muss. Schon Friedrich Hebbel verkannte seine Werke als eine Art von putzigem Butterblumendetailrealismus; dabei schildert Stifter doch viel öfter die unheimliche, über alles Menschenmaß hinausgehende, erhabene Natur. Das vulkanische Beben unter seinen oberflächlich friedlichen Landschaften und Seelenlandschaften – Hebbel, der Dramatiker der tragischen Zuspitzung, spürte offenbar nichts davon. Vom "kosmischen Erschrecken" hat ein Stifter-Forscher gesprochen. Dieses kosmische Erschrecken macht sich in fast jeder der Erzählungen geltend. Idyllischer Schein und Verstörung – das sind die beiden Pole der Stifter-Welt. Obsessiv hat der Autor die inner- und außermenschlichen Elementargewalten dargestellt. Mit einer besonderen Vorliebe für Naturkatastrophen, wie den Hagelsturm in der Geschichte "Katzensilber".

Stifters Erzählungen sind diskret. Gerade deshalb aber verleihen sie den Momenten der Leidenschaft den Charakter des Unheimlichen und Überwältigenden. Auffallend ist bei allem objektiven Gestus ein hohes Maß an Empfindung und Sentiment, das man als typisch biedermeierlich bezeichnen kann. Kaum verwunderlich, dass Stifter vom ersten Bestseller des Realismus, Gustav Freytags "Soll und Haben", herzlich wenig hielt: er fand das Buch bis zum Ekel "kalt" gemacht. Das sind seine eigenen Werke nie.

Gegen sein Unglück versuchte der Autor zunehmend positive Bilder glücklichen, heiteren, in sich ruhenden Daseins zu entwickeln. Je größer sein eigenes seelisches Elend wurde, desto systematischer verleugnete er es in der Literatur, desto mehr wollte er der Dichter eines vorbildlichen Lebens sein. Dieses merkwürdige Missverhältnis grundiert den ruhigen Stifter-Ton wie eine leise, aber hartnäckige Dissonanz.

In den Erstfassungen der Erzählungen, den so genannten Journalfassungen, bricht das Fatale des Lebens freilich oft genug noch offen durch. In den späteren Überarbeitungen für die großen Erzählungssammlungen "Studien" und "Bunte Steine" hat der Autor das systematisch geglättet und gemäßigt. Meist sind die Erzählungen in den Buchfassungen länger geworden; die einzige Ausnahme ist die Erzählung "Die Pechbrenner", die von der Zeit der letzten Pestepidemie in Böhmen handelt. Für die Buchfassung unter dem Titel "Granit" kürzte Stifter sie radikal um einige grausame Episoden, die ihm nicht mehr zuträglich erschienen und der in den "Bunten Steinen" vertretenen Lehre vom "Sanften Gesetz" allzu offensichtlich widersprachen.

Die letzten Erzählungen Stifters sind geprägt von formaler Abstraktion und zugleich einer Annäherung ans Lustspielhafte. Sie schildern keine dichte Wirklichkeit, sondern ein Wunschleben in höfischen Kulissen, ihr rituelles Sprechen und ihre formelhaften Beschreibungen grenzen ans Parodistische. Es sind Werke, die mit ihrer Zeit, der Epoche nach 1848, rein gar nichts mehr zu tun haben wollen. Gerade diese späten, hermetischen Erzählungen, die bei den Zeitgenossen wenig Eindruck machten, werden heute gerne als Ausweis der Modernität Stifters gelobt. In den letzten Jahren sind überraschend aktuelle Interpretationen seines Werkes, etwa im Zeichen der Semiotik, entstanden.

Die 33 Erzählungen in den Erstdrucken umfassen in der Hanser-Ausgabe über 1500 Seiten: zwei bibliophile Bände, Bücher zum Genießen, mit Leineneinband, feinstem Dünndruckpapier und Fadenheftung, ergänzt um einen schlanken Anhang von knapp hundert Seiten, der neben einem Nachwort des Herausgebers Wolfgang Matz vor allem Hinweise zu den einzelnen Erzählungen enthält: Entstehungsgeschichte, Erläuterungen und jeweils eine kurze Darstellung der Umarbeitungen, wie Stifter sie später vorgenommen hat. Wer es gerne etwas weniger prächtig, dafür aber preiswerter mag, kann dieses Basispaket Stifter übrigens auch als einbändiges Taschenbuch bei dtv bekommen.

Adalbert Stifter. Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken. Herausgegeben von Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag 2005, 2 Bde., zus. 1640 Seiten, 78 Euro. Als dtv 29 Euro.