Besorgte Bürger

Alarmismus, wo Aufklärung vonnöten wäre

Ein Kameramann baut im Januar 2015 kurz vor Beginn des Bundesparteitages der Partei Alternative für Deutschland (AfD) in Bremen vor der Veranstaltungsbühne im Congress Centrum eine Kamera auf.
Ein Kameramann beim AfD-Parteitag im Januar 2015: Berichten Medien zu hysterisch über die aktuelle Situation in Deutschland? © picture alliance / dpa / Ingo Wagner
Von Sergej Lochthofen · 03.12.2015
Wäre heute Bundestagswahl, würde die AfD drittstärkste Kraft, warnt der Erfurter Zeitungsmacher Sergej Lochthofen. Denn selbst Politiker und Journalisten machten derzeit mit Katastrophen-Gerede Stimmung - anstatt aufzuklären.
Nun wissen wir es also genau: Der Frust in Deutschland hat ein Gesicht. Es ist männlich, es ist faltig - so zumindest das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa, und es ist ostdeutsch. Und wie bitte sieht ein ostdeutsches Gesicht aus? Auch darauf gibt es jetzt eine Antwort: Es ist verkniffen, miesepetrig, kurzum pessimistisch.
Sehr gut zu beobachten vor allem bei Pegida-Aufmärschen in Dresden oder den AfD-Kundgebungen in Erfurt. Aber selbstverständlich auch in anderen Regionen der neuen Ländern. Finsterer schaut allenfalls ein CSU-Parteitag – dann, wenn gerade die Kanzlerin ans Rednerpult tritt. Nach einem kurzen Hänger im Sommer haben die Ober-Schwarzseher im Osten wieder Oberwasser.
Ober-Schwarzseher haben wieder Oberwasser
Der Zustrom von Menschen, die vor Gewalt und Hunger fliehen, hat den Petris und Bachmanns zu einem zweiten Atem verholfen. Gäbe es in diesen Wochen Wahlen, so käme die AfD nicht nur in den Bundestag, sondern wäre auch drittstärkste Kraft. Das Leid der einen ist die Freude der anderen.
Bemerkenswert: Es sind nicht die armen und entrechteten, die – wie lange vermutet – das Gros der Gefolgschaft rechter Populisten bilden, sondern durchweg Gutverdiener, die offenbar der Gedanke, etwas von ihrem Wohlstandsspeck einbüßen zu können, auf die Straßen und Plätze treibt.
Die guten Konjunkturdaten, die weiter sinkenden Arbeitslosenzahlen, die geringe Inflationsrate, aber auch fünf Prozent mehr für die Rentner im kommenden Jahr – einen so hohen Anstieg gibt es natürlich nur im Osten – alles, aber auch alles wird zu einem Katastrophenszenario umgedeutet, das besagt: Ja, heute geht's uns noch gut, aber morgen!?
Auf Schönwetterdemokraten ist derzeit kein Verlass
Es scheint, ganze Bevölkerungsgruppen im Osten, besonders in Sachsen, fühlen sich in ihrer Wertvorstellung dem Kaszynski-Polen näher als dem Merkel-Deutschland. Offenbar sind dem Westen vor 25 Jahren nicht nur friedliche Revolutionäre zugewachsen - das waren ohnehin nur die Wenigsten, sondern vor allem Schönwetterdemokraten. Wenn es eng wird, ist auf sie kein Verlass.
Es ist eine seltsame Melange, die da den Weltuntergang beschreit. Aber richtig verwundern muss es niemanden. Wo allenthalben von "Katastrophe" und "Überforderung", von "Chaos" und "apokalyptischer Menschenflut" die Rede ist, scheint es nur allzu logisch, dass viele, ungeachtet ihrer persönlichen Erfahrung, beginnen, an den Untergang zu glauben.
Womit wir nicht nur bei den politischen Hasardeuren in den konservativen Parteien angekommen sind, die statt zur Lösung der Probleme beizutragen, diese auch noch befeuern, sondern auch in vielen Redaktionsstuben des Landes, die statt sachlicher Nachrichten Infotainment, statt fundierter Meinung Stimmungsmache liefern.
Auch Journalisten schreiben leichtfertig von "Katastrophen"
Wer wirklich eine Katastrophe erleben möchte, sollte vielleicht nach Aleppo fahren. Wer Chaos sehen will, nach Lesbos. Und wer meint, es bereits mit einer Überforderung zu tun zu haben, ist mit Sicherheit nicht im Schlamm auf der Balkan-Route gewatet.
Alarmismus statt Aufklärung. Verantwortungslose Dramatisierung dort, wo ein kühler Kopf vonnöten wäre. Es ist eben nicht nur das Internet, in dem die ohnehin kaum vorhandenen Standards weiter gesenkt werden. Ausgedünnte Redaktionen und die Angst vor Abbestellungen befördern ein Nach-dem-Munde-Reden einer immer aggressiver auftretenden Minderheit.
Manches fühlt sich an wie in den 90-er Jahren, als infolge des aufgeregten Grundrauschens der Asyldebatte nicht nur Häuser brannten, sondern ganze Familien zu Tode kamen.
Menschen, die an Realitätsverlust litten, gab es in Deutschland schon immer. Das ist nicht das Problem. Aber erst die Vereinigung von Frust auf der einen Seite und Verantwortungslosigkeit auf der anderen macht die Lage wirklich gefährlich.

Sergej Lochthofen ist Journalist. Geboren 1953 in Workuta (Russland), kam er als Fünfjähriger mit den Eltern in die DDR, wo er eine russische Schule besuchte. Er studierte Kunst auf der Krim und Journalistik in Leipzig. Von 1990 bis Ende 2009 verantwortete er die Zeitung "Thüringer Allgemeine". Das Medium-Magazin wählte ihn zum regionalen "Chefredakteur des Jahres". Fernsehzuschauer kennen ihn als Stimme des Ostens im ARD-Presseclub oder in der Phoenix-Runde.

Sergej Lochthofen
© picture alliance / dpa-Zentralbild / Arno Burgi
Mehr zum Thema