Berliner Volksbühne

Elitäre Wirklichkeitsflucht beim Online-Dating

Clemens Sienknecht; Tora Augestad, Olivia Grigolli, Lilith Stangenberg, Altea Garrido, Irm Herrmann (v. l. n. r.) in Christoph Marthalers Inszenierung "Tessa Blomstedt gibt nicht auf" an der Berliner Volksbühne.
Selbstgerechtes Abwenden von unserer Zeit: Marthalers "Tessa Blomstedt" gibt nicht auf © dpa / picture alliance / Claudia Esch-Kenkel
Von André Mumot · 15.10.2014
In "Tessa Blomstedt gibt nicht auf" geht es um Frauen, die nach der Liebe suchen und sie nicht finden können. Doch der Zugriff auf das Thema wirkt angewidert und der formvollendete Spott ist wenig geistreich. Was in anderen Marthaler-Inszenierungen poetische Funken schlägt, ist hier nur Ärgernis.
Eigentlich ist ja alles wie immer. Die Verstörten, die Skurrilen, die Schrulligen und die Müden verteilen sich zur melancholisch umwehten Clownerie auf der großen Anna-Viebrock-Bühne, die ein weiträumiges Betonloft bildet - samt Ruhebereich im ersten Stock, großem Piano und kleinem Tonstudio - und auf der die Sonderlingsversammlung singt und musiziert, tanzt, rezitiert, Pflanzen abstaubt und ein wenig Gymnastik betreibt. Das Publikum der Berliner Volksbühne freut sich jedenfalls lautstark, nach zwei Jahren wieder einen echten Marthaler-Abend präsentiert zu bekommen.
Natürlich handelt es sich um eine musikalische Revue, und schon zu Beginn steigen die sanften Gamben-Töne von Martin Zeller balsamisch aus dem offenen Orchestergraben auf, der neben dem Musiker auch noch diverse Umzugskartons und blaue Plastiksäcke beherbergt: Hier ist jede Menge altes Inventar eingelagert, abgelegte Requisiten, Hirschgeweihe und ein antiker PC – Versatzstücke, auf die auch die Darstellerinnen und Darsteller dann und wann zurückgreifen können für ihr Potpourri aus verstreuten Texten, Ersatzhandlungen und Liedern.
"Tessa Blomstedt" vereint mehrere Generationen von Frauen
Diesmal wird vor allem der deutschsprachige Schlager gepflegt, Helene Fischers "Atemlos durch die Nacht" (in barock anmutender Getragenheit interpretiert), Matthias Reims "Verdammt, ich lieb dich" oder Beatrice Eglis "Meine Herz, es brennt". Dabei sticht vor allem Sopranistin Tora Augstedt als strahlender Stimmstern des Abends hervor, da sie mit absoluter Perfektion nicht nur allerhand Schnulzenklassiker und Whitney Houstons "I will always love you" zu meistern weiß, sondern auch verschiedenste Purcell-Arien, deren ätherische Überweltlichkeit übrigens das Einzige zu sein scheint, vor dessen Marthalers Bespöttelungslust an diesem Abend halt macht.
Denn um die Liebe soll es gehen und um die Lebenspartnerfindung via Internetbörsen. "Ein Testsiegerportal" hat Marthaler diesen Abend genannt und im Vorfeld bekannt gegeben, dass diese "Tessa Blomstedt", die eben nicht aufgibt, gleich mehrere Generationen von Frauen in sich vereint, die nach der Liebe suchen und sie nicht finden können. Irm Herrmann ist wohl diese Tessa-Chiffre, aber Genaueres lässt sich nicht sagen, denn klar gezeichnete Figuren oder eine Handlung stellen sich nicht ein. Nur ein Hin und Her zwischen der wie immer charmant ungelenken Fassbinder-Veteranin und dem inbrünstig singenden Rest-Ensemble, das sich verbissen abrackert, um den anonymen Netzkontakten zu gefallen.
Verschmocktes Aus-der-Zeit-Fallen
Merkwürdig ist Marthalers Zugriff auf dieses Thema. Es ist, als greife er nur mit spitzen, leicht angewiderten Fingern danach - und das theatrale Ergebnis ist eine gespreizte, mitleidlose Kälte, ein gehässiges Ausstellen von Portal-AGBs und Internetratgebern für überforderte Single-Männer, wobei alles Digitale grundsätzlich mit großer altväterlich verstockter Fremdheit vorgeführt wird. Ebenso wie die Schlager und ihre Texte, die halbwegs verfremdet aber wenig geistreich der Lächerlichkeit preisgegeben werden – ein viel zu leichtes, viel zu billiges Opfer.
Ausgerechnet an den Titeln der österreichischen Sängerin Elfie Graf arbeitet man sich beim Finale ausgiebig ab – genüsslich werden ihre reaktionäre Texte über Heimatsehnsucht ("Am Schönsten ist es zu Hause") und emanzipierte Frauen ("Einen Adam, einen Apfel und ein kleines Paradies") vor dem Publikum ausgebreitet, als gäbe es nichts, was unser Liebes- und Partnerschaftsbild heute problematisch machen würde, als müsse man sich 2014 noch mal dringend über die Lieder der 70er und frühen 90er mokieren.
Es ist, was Marthaler-Fans lieben und was in anderen Inszenierungen immer wieder unwiderstehliche poetische Funken schlägt: ein verschmocktes Aus-der-Zeit-Fallen, das keck daherkommt und überaus kultiviert und formvollendet ausgeführt wird. Doch ist es diesmal, bei Licht betrachtet, vor allem elitäre Wirklichkeitsflucht, was diese Revue über zwei Stunden antreibt, ein selbstgerechtes Abwenden von unserer Zeit, von unseren Problemen und wirklichen Menschen. Ein Theater, das schön aussieht und schön klingt, am Ende aber nicht mehr als ein Ärgernis ist.
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