Berlinale, Houellebecq und ein Abschied

Vom Schrecken der Gegenwart

Der Schauspieler Edgar Selge spielt am 03.02.2016 in Hamburg auf der Fotoprobe von "Unterwerfung". Das Stück von Michel Houellebecq feierte seine Uraufführung in der Regie von Karin Beier am 06.02.2016 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg.
Der Schauspieler Edgar Selge in "Unterwerfung" von Michel Houellebecq in der Regie von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg © picture-alliance / dpa / Markus Scholz
Von Arno Orzessek  · 13.02.2016
Gewalt, Unterwerfung, rechter Schrecken und Tod - das sind die Stichworte der großen Feuilleton-Themen dieser Woche. Dabei entsteht - natürlich - ein düsteres Bild. Allerdings: Ein wenig kommt es auch auf die Betrachtung an.
"Ballt das Händchen doch 'mal zur Faust!"
forderte die Tageszeitung DIE WELT namentlich von ihren männlichen Lesern…
Und das war keineswegs metaphorisch gemeint - im Sinne von 'Faust in der Hosentasche ballen‘.
Nein, Eckhard Fuhr, der nicht zu den Hetzern gehört, hielt im Rückblick auf die Silvester-Ereignisse von Köln ein ernsthaftes "Plädoyer für Tapferkeit".
"Es gilt der Rechtsgrundsatz, dass das Recht dem Unrecht nicht weichen muss. 'Der Klügere gibt nach‘ ist dagegen kein Rechtsgrundsatz. Kein Bürger ist gezwungen, Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, wenn seine Rechte von anderen verletzt werden. Er darf sich verteidigen. […] Wo waren [in Köln] die männlichen Begleiter der Frauen? Wo war überhaupt die vielbeschworene Zivilgesellschaft […]?"
fragte Fuhr in der WELT - und entwarf ein düsteres Szenario:
"Es wird rauer zugehen in unserer Gesellschaft, auch gewalttätiger. Fremdenfeindliche Gewaltmeuten werden ebenso versuchen, den öffentlichen Raum zu beherrschen wie das die arabischen Männer am Kölner Hauptbahnhof taten. […] Deswegen lässt mich die Frage nicht los, wo der Punkt erreicht ist, an dem man sich wehren, an dem man alle pragmatische Vernunft und urbane Coolness fahren lassen muss, um einen Angreifer niederzukämpfen. Es darf nicht sein, dass gewaltbereite Gruppen sich ohne eigenes Risiko den öffentlichen Raum unterwerfen. Auf lange Sicht ist hier der Dumme, wer nachgibt. Wir müssen unsere Jungen wieder darin bestärken, dass sie einmal tapfere Männer werden sollen."
Tja, liebe Hörer! War das eine Aufforderung zum Bürgerkrieg? Oder doch ein zielführender Hinweis darauf, dass den Verhältnissen auf unseren Straßen mit diskursiven 'Love and Peace‘-Strategien nicht mehr beizukommen ist?
Theater schlägt Kino - zumindest medial zum Wochenstart
Es sei, wie es sei. Fest steht, dass sich am Anfang der Woche, in der die 66. Berlinale eröffnet wurde, alle Feuilletons fürs Theater interessierten…
Und genauer: für Karin Beiers Hamburger Inszenierung von Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung – jener Zukunftssatire, die davon erzählt, wie in Frankreich Islamisten die Macht übernehmen.
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG bemäkelte Hubert Spiegel, dass Edgar Selge bei aller Brillanz die Melancholie der Hauptfigur François zu zynisch, François‘ Hilflosigkeit aber zu kraftvoll darstelle. Und überhaupt…
"Dass Houellebecq dem alten, in der Kölner Silvesternacht aktivierten Angstklischee von schwarzen Händen, die nach dem Fleisch weißer Frauen greifen, ein anderes Phantasma entgegengesetzt hat, nämlich das der devoten, allein ihrem Ehemann sexuell verfügbaren Muslima, geht beinahe unter. Karin Baier hat die Unterwerfung erträglich gemacht."
Nicht ganz anders die Reaktion von Eva Behrendt in der TAGESZEITUNG:
"Was die Lektüre von 'Unterwerfung‘ so faszinierend wie unheimlich macht, ist […] die selbstreflektierende Intelligenz des Erzählers, sein Oszillieren zwischen […] theoretischer Ablehnung und schließlich pragmatischer Zustimmung zum neuen [islamistischen] Regime. Dieser Flirt mit der totalitären Herrschaft wirft den Leser und selbst die Leserin zurück auf die spirituelle Lücke des Westens, die kein Yogaseminar stopfen kann, weil sie systemimmanent ist – was nicht heißt, dass sie unaushaltbar wäre. Doch so lange man sich von Selges François so leicht distanzieren kann, will sich im Schauspielhaus weder das verführerische Schillern des Romans noch das Lückenbewusstsein so recht einstellen."
Der Schrecken der Gegenwart
Indessen flirten viele Europäer zwar nicht unbedingt mit einer totalitärer Herrschaft von rechts, wohl aber mit rechtspopulistischen Parteien.
Und das bewegte Thomas Assheuer in der Wochenzeitung DIE ZEIT zu dem sarkastischen Ausruf: "Etwas Besseres als die Freiheit finden wir überall".
"Mit den rechten Parteien formiert sich […] eine Gegenmacht zum politischen Liberalismus; […]. Jeder Versuch, die EU zu vertiefen, gibt ihnen Auftrieb, und jedes Verharren auf einem Berg ungelöster Probleme spielt ihnen in die Hände. So oder so kommt die europäische Rechte derzeit ihrem Ziel näher: und das heißt Zerstörung der liberalen Gesellschaft und Umwandlung der EU in eine lose Vereinigung der ‚Vaterländer‘. Das wäre der Austritt des Kontinents aus der Geschichte, und vielleicht bedeutet es Weimarer Verhältnisse in europäischer Dimension."
Kein Wort war dem ZEIT-Autor Assheuer zu groß, um die Schrecken der Gegenwart auszumalen – und er endete hilflos:
"Entscheidend wird sein, ob der syrische Albtraum eine Ende findet und der EU in der Flüchtlingskrise eine Neugründung gelingt. Doch selbst dann werden die neuen Rechten nicht einfach verschwinden. Aus ihrem Hass spricht ein objektiver Wahn, der Wahn eines irren Zeitalters."
Am Schluss erreicht das Kino dann doch die Feuilletons
Was aber macht das Kino? Es macht – nicht zuletzt und natürlich berechtigterweise – die üblichen Mätzchen…
Wie etwa in Hail, Caesar!, dem Eröffnungsfilm der diesjährigen Berlinale – einem Werk der Coen-Brüder über den trügerisch-berauschenden Hollywood-Schein in den frühen 50er Jahre.
"Nie steht im Zweifel, auf welcher Seite Joel und Ethan Coen stehen: Sie schließen sich keiner irgendwie politischen Fraktion an, sondern verteidigen einfach die Kunst der Fiktion und das Erfinden von Geschichten. Genau das war und ist die Aufgabe von Hollywood und darum geht es grundsätzlich in 'Hail, Caesar!‘: Um eine höhere Wahrheit, die mit dem Einsatz von Licht kundgetan wird",
schwärmte Anke Westphal in der BERLINER ZEITUNG.
Und ein Abschied
Wir verabschieden uns unterdessen von Roger Willemsen, der – wie die TAZ schrieb – "jung im Alter von 60 Jahren gestorben" ist.
In der ZEIT berichtete Jörg Bong, der Chef des S. Fischer Verlags, dass Willemsen ihm kurz nach der Krebs-Diagnose im letzten Jahr aus Oslo geschrieben habe:
"'Jörg, hier ist Frohsinn. Lebensfreundlichkeit. Lächeln. Wie dankbar ist man in diesem Zustand für ein solches Leben, diese Zugewandtheit und Bejahung von allem Sinnlichen.'"
Gewiss hätte Willemsen in selbigem Moment der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG zugestimmt.
Die NZZ behauptete: Wenn man die Welt richtig ansehe, sei sie "viel schöner, als man glaubt."
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