Berlin-Neukölln

Der rätselhafte Mord an Burak Bektaş

Eine Demonstrantin hat sich am 05.04.2014 in Berlin bei einer Demonstration zum Gedenken an den 22-jährigen Burak Bektas ein Portrait des Ermordeten an das Kopftuch gehängt.
Ein Foto des Ermordeten - Eindruck von einer Demonstration im April 2014 © picture alliance / dpa / Florian Schuh
Von Thilo Schmidt · 22.02.2017
2012 wird in Berlin-Neukölln der 22-jährige Burak Bektas erschossen. Der Mord ist bis heute ungeklärt. Hinweise deuten auf einen rechtsextremen Tathintergrund, konkrete Beweise fehlen jedoch.
Die Abendschau berichtet: "97 Hinweise hat die Polizei, aber keine heiße Spur. Nachdem im April ein Unbekannter in eine Gruppe von fünf jungen Männern schoss. Einer von ihnen, der 22-jährige Burak, verblutete am Tatort. Zwei weitere wurden schwer verletzt."
Es ist die Nacht vom vierten auf den fünften April 2012. Fünf junge Männer stehen auf der Straße vor dem Krankenhaus im Neuköllner Ortsteil Buckow. Alle sind Migranten. Sie haben sich an diesem Abend zufällig getroffen.
"Wir standen halt hier und haben ein bisschen gequatscht, und dann haben wir den Täter schon neben uns gesehen." - "Dann hat er schon direkt seine Waffe rausgezogen."
Der Täter taucht aus dem Nichts auf, schießt mehrfach auf die Gruppe und verschwindet in der Dunkelheit.
"Alle lagen auf dem Boden, Alex und Markus hier, Burak da."
Ein Hund sitzt in der Pannierstraße an der Ecke Weserstraße auf dem Gehweg vor der Kneipe "Freies Neukölln", fotografiert am 20.08.2013 in Berlin Neukölln.
Straßenszene in Berlin-Neukölln© picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Alex A. und Jamal A. werden lebensgefährlich verletzt. Burak Bektaş überlebt die Attacke nicht.
"Da hab ich erst realisiert, dass es 'ne echte Waffe sein muss. Da wusste ich, dass es 'ne ernste Situation ist." - "Ich hatte nicht das Gefühl, dass er gezielt einen treffen wollte. Ich hatte eher das Gefühl, dass er einfach blind auf die Gruppe losgeschossen hat."
Die Familie Bektaş wohnt nur ein paar Minuten vom Tatort entfernt, in einer bürgerlichen Einfamilienhaussiedlung. Bald fünf Jahre ist es her, dass Burak nicht mehr nach Hause kam.
"Burak war in Familie ein ganz beliebter Junge. Er war unser erstes Kind. Er war ein sehr glücklicher und beliebter und sehr fröhlicher Junge."
Buraks Mutter Melek reicht Kuchen und Çay, türkischen Tee. Wir sitzen im Wohnzimmer. Im Fernsehen läuft ein türkischer Nachrichtensender. Melek Bektaş ringt um Fassung. Der Mörder ihres Sohnes ist noch nicht gefasst. Der Tatort liegt um die Ecke. Möglich, dass der Mörder in ihrem Viertel wohnt.

War die Tat rassistisch motiviert?

Ein Mord, für den es scheinbar kein Motiv gibt. War es ein rassistischer Mord? Die Enttarnung des NSU war gerade ein halbes Jahr her. Es gibt Parallelen: Ein weißer Mann schießt wortlos auf Migranten. In Berlin gründen linke Aktivisten die "Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş". Zusammen mit der Familie organisiert die Initiative jeden Monat eine Mahnwache am Tatort.
Auch Helga Seyb ist heute Abend zu Gast bei Familie Bektas. Sie berät Opfer von Gewalttaten beim Berliner Verein "Reach Out" und suchte den Kontakt zu Melek Bektas. Später gründete sie mit Anderen die "Initiative zur Aufklärung des Mordes".
"Auch hab' ich den Eindruck, dass wir offen miteinander reden können, was es für Ideen auch noch gibt, wie man diesen Mörder vielleicht noch finden könnte. Also wir können zusammen überlegen, wir können zusammen auch Ideen entwickeln, was man noch machen könnte."
"Zum Gedenken an Burak - Rassismus - wieder das Motiv?" steht am 05.04.2014 in Berlin bei einer Demonstration zum Gedenken an den 22-jährigen Burak Bektas auf einem Transparent.
Demonstration zum Gedenken an Burak Bektas© picture alliance / dpa / Florian Schuh
Familie Bektas ist eine moderne, aufgeklärte türkische Familie. Vater Ahmed kam mit seinen Eltern nach Deutschland, als er zwölf war, Melek kam mit 19. Um ihre Kinder mussten sie sich nie Sorgen machen. Burak trägt auf vielen Bildern sein rotes Base-Cap. Es ist längst zum Symbol geworden. Es ziert die Plakate und Flyer, mit denen die Burak-Initiative auf Mahnwachen und Kundgebungen auf die Tat aufmerksam macht.
Ende November 2016. Vor dem Krankenhaus Neukölln, dort, wo Burak starb, findet wieder eine Mahnwache statt: "Vielen Dank, dass Ihr so zahlreich erschienen seid. In den Gedanken lebt Burak weiter, und solange wir an ihn denken, wird er auch für immer weiterleben. Und das sind die Gedanken der Freunde, und ich hoffe, niemand von uns wird ihn jemals vergessen. Und wir nutzen diese Tage auch, um uns daran zu erinnern, wie schön das Leben eigentlich mit ihm war. Die Überlebenden beschreiben die Tat als Hinrichtung auf offener Straße. Ein Vorgang, den wir von den Morden des NSU kennen: Weißer Mann schießt wortlos und ohne Vorwarnung auf Migranten. Burak Bektas wurde wenige Monate nach der Selbstenttarnung des NSU ermordet. War das eine Nachahmungstat? War der Mörder ein Rassist? Viele Fragen. Keine Antworten."

Leben nach dem NSU-Debakel

95 Prozent aller Morde werden aufgeklärt. Aber in diesem Fall gibt es kaum verwertbare Spuren und wenig brauchbare Zeugenaussagen. Polizei und Staatsanwaltschaft schließen zwar ein rassistisches Motiv nicht aus, gehen einem solchen aber kaum nach.
Onur Özata, einer der beiden Anwälte der Familie Bektas: "Man verliert einen Sohn, der wird auf offener Straße erschossen, und der Täter ist bis heute nicht bekannt. Der läuft vielleicht irgendwo frei rum, der ist vielleicht weiterhin eine Gefahr. Dass das einen als Elternteil nicht loslässt, gerade wenn man auch noch minderjährige Kinder hat, dann ist das natürlich sehr verständlich."
Der Mord an Burak Bektaş geschah ein halbes Jahr nach der Enttarnung des NSU. Seither ist für viele Türken in Deutschland das Leben nicht mehr so wie zuvor. Nicht nur wegen der Schüsse. Sondern auch wegen der jahrelangen Versäumnisse und der Aktenvernichtung der Geheimdienste bis hin zu ihrer denkbaren Mitwisserschaft. Weil die Ermittlungen fast ausschließlich innerhalb der Opferfamilien stattfanden, aus Opfern mögliche Täter gemacht wurden.
Ein Polizist steht am 04.11.2011 in Eisenach-Stregda vor einem qualmenden Wohnwagen, in dem zwei Leichen entdeckt wurden: die von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt.
2011 wurde der NSU enttarnt. Im Bild: Der Wohnwagen, in dem die Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gefunden wurden.© picture alliance / dpa / Carolin Lemuth
Darum, sagt Helga Seyb, kann man Ermittlungen nach dem NSU-Debakel nicht mehr führen wie vor dem NSU-Debakel. Dennoch erlebt sie, dass die Möglichkeit eines rassistischen Tatmotivs im Polizeiapparat ausgeblendet wird
"Also wenn ich irgendwie ein Treffen habe mit allen Opferschutzbeauftragten des Polizeiapparates, da, und mir dann da eine Frau, eine Polizeibeamtin, sagt, das ist doch aber völlig klar, das ist doch wegen Ruhestörung passiert und das hat überhaupt nichts mit Rassismus oder rechter Gewalt zu tun. Und dann sitz ich da und bin so ein bisschen auch fassungslos, und denke: Wieso denn eigentlich Ruhestörung, wer redet denn hier von Ruhestörung?"
Bereits wenige Monate nach dem Mord ließ die Staatsanwaltschaft eine operative Fallanalyse anfertigen, das heißt, es wird ein Täterprofil und eine Tathypothese erstellt. Allerdings: Die Staatsanwaltschaft verleugnet deren Existenz. Warum tut sie das? Schließlich hält diese Fallanalyse ausdrücklich ein rassistisches Motiv für möglich. Ermittlungsansätze gäbe es jedenfalls einige.
"Was es damals eben auch gab, ist von der Reichsbürgerbewegung einen Brief, in dem das alles drin stand. Dass die Muslime, Schwarze und Juden aufgefordert werden, das Land zu verlassen, und das war ja auch in diesem Jahr 2012, und wenn sie das nicht tun, dann eben niemand verhindern kann, dass sie standrechtlich auf der Straße erschossen werden. Das steht so wörtlich in diesem Brief drin, der verteilt worden ist am Anfang an Synagogen und Moscheen, und dann aber auch an Privatpersonen."

Ein zweiter Mord bringt neue Hinweise

2013 geht bei der Polizei ein Hinweis ein. Zum ersten Mal wird der Name eines Mannes genannt: Rolf Z.
Helga Seyb: "Also es gab ja damals einen Hinweisgeber, der gesagt hat, dieser Rolf Z., den hat er manchmal da ans Krankenhaus Neukölln gefahren, und da hätte er sich dann treffen wollen und irgendwie Schießübungen machen wollen, rumballern wollen, bei seinem Bruder, und es hat sich herausgestellt, dass der Rolf Z. eben da einen Bruder hatte, der aber schon längere Zeit tot ist, und aber seine Schwägerin immer noch ein Haus da hat.
Onur Özata: "Man hat diesen Hinweis nicht ernstgenommen. Also in der Akte ist ein kleiner Vermerk, da steht drin, es bestünde kein Bezug zu Neukölln. Und deswegen ist man der Sache weiter nicht nachgegangen. Und das fanden wir schon total eigenartig. Also schon als wir die Akte gelesen haben, haben wir uns gefragt, der Mann wohnt doch in Neukölln, warum hat man das hier so abgetan. Und als dann der Mord an Luke Holland geschah, ist es mir dann wie Schuppen von den Augen gefallen."
Eine Teetasse steht während einer Befragung des NSU-Untersuchungsausschusses am 23.11.2015 im baden-württembergischen Landtag in Stuttgart (Baden-Württemberg) auf einem Aktenstapel, der auf dem Boden liegt.
Schleppende Ermittlungen im NSU-Fall© dpa / picture alliance / Marijan Murat
Im September 2015, mehr als drei Jahre nach dem Mord an Burak Bektas, wird der Brite Luke Holland vor einem Club in Neukölln erschossen. Der Täter wird noch in der Nacht festgenommen. Es ist Rolf Z. Er war zuvor in der gleichen Bar wie Luke Holland und hat sich dort beschwert, dass "hier ja kaum noch deutsch gesprochen" werde.
Onur Özata: "Für uns war von Interesse einerseits, ob der Mord an Luke Holland nicht durch ein Versäumnis der Ermittlungsbehörden begünstigt worden ist.Wäre man diesem Hinweis nachgegangen, wäre eventuell der Mord an Luke Holland vermeidbar gewesen."
Die Hoffnung, dass die Ermittlungen im Mordfall Burak Bektaş durch die Festnahme von Rolf Z. neuen Auftrieb erhalten, zerschlägt sich schnell. Neue Ermittlungen? Gegenüberstellung mit den Tatzeugen des Mordes an Burak? Fehlanzeige. Rolf Z. komme nicht in Frage, weil er einen Bart trage, und der Mörder von Burak keinen Bart getragen haben soll, zitiert Anwalt Özata die Polizei. Aber ist ein Bart ein Ausschlusskriterium, wenn zwischen den beiden Mordfällen Jahre liegen?
Onur Özata: "Also das ist ja 'ne ganz naheliegende Sache, dass man das mal macht, auch wenn schon so viel Zeit vergangen ist. Dass man einfach mal so eine weitere, ergänzende Befragung dieser Tatzeugen macht. In Bezug auf Rolf Z. Das ist nicht erfolgt."

Hitler-Büste und Nazi-Devotionalien

2016 steht Rolf Z. in Berlin vor Gericht. Die Eltern von Luke Holland werden als Nebenkläger von den Anwälten der Familie Bektas, Onur Özata und Mehmet Daimagüler, vertreten. Helga Seyb und die "Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş" beobachten den Prozess.
Onur Özata: "Natürlich ist es schwierig, in so einem Strafprozess, der sich mit der Schuldfrage des Angeklagten beschäftigt, weitere Aufklärungsaspekte in Bezug auf ein anderes Mordgeschehen hineinzutragen. Das ist schwierig und das wird auch konsequent durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte konterkariert. Das will man nicht."
Ein Plakat der Waffen-SS in der Ausstellung des neuen NS-Dokumentationszentrums "Topographie des Terrors".
Nazi-Devotionalien - ein verschrobenes Herrenhobby?© dpa / Rainer Jessen
Rassismus als Tatmotiv konnte das Gericht nicht feststellen. Obwohl sich Z. vor der Tat in der Kneipe beschwerte, dass hier kaum noch Deutsch gesprochen werde. Obwohl in seiner Wohnung eine Hitler-Büste und andere Nazi-Devotionalien gefunden wurden.
Onur Özata: "Nein. Es wurde halt euphemistisch ein bisschen als Herrenzimmer, Sammlerzimmer bezeichnet, dort, wo sich diese Portraits gehäuft haben, wo sich eine Büste gefunden hat, wo eine Flagge gefunden wurde der rechtsradikalen Band Landser. Aber das alles war nicht Beleg genug für das Gericht, da eine Fremdenfeindlichkeit des Angeklagten zu sehen, und auch in der Tag keine fremdenfeindliche Motivation zu sehen."
Helga Seyb: "Und man hat dem Prozess angemerkt, dass der nicht unter so ner Maßgabe verhandelt worden ist, dass es sich möglicherweise um einen politisch motivierten Mord gehandelt haben könnte, die haben da so ein ganz normales Verfahren, so ein 08/15-Kriminalität durchgezogen."
Rolf Z. wird zu elf Jahren und sieben Monaten Haft für den Mord an Luke Holland verurteilt.
(gekürzte Onlineversion: thg)
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