Berlin

Lokalfürstin winkt mit der Regel-Keule

Rosa Rollkoffer mit Stoffpinguin am 03.10.2013 vor dem Reichstagsgebäude
einzelner Koffer im öffentlichen Raum © picture alliance / Wolfram Steinberg
Von Arno Orzessek  · 19.08.2014
Vorgaben, Verhaltensgrundsätze und natürlich Verbote sind das Revier der Lokalfürsten. Nun hat auch mal wieder eine Berliner Ortsteilpolitikerin zugeschlagen. Kopfschüttelnd empört sich eine Bezirksbürgermeisterin über Rollkoffer.
Stellen wir eine echte Schulaufsatz-Frage: Soll das coole Berlin seinen Besuchern wirklich so etwas ausgesprochen Uncooles wie einen Verhaltens-Codex in die Hand drücken?
Einerseits: Ja, unbedingt! Wer je erlebt hat, wie sich ein paar Feierbiester über Airbnb die urlaubshalber verlassene Nachbarwohnung mieten, um auf der Terrasse und Chrystal Myth - Tage und Nächte knapp unter der polizeilichen Interventionsgrenze durchzufeiern, der ist von Weltoffenheits-Allüren und falscher Toleranz vorerst geheilt.
Und dieser Heilungsprozess läuft in Berlin schon seit längerem. Airbnb und ähnliche Portale, die den Touristen Berliner Privatwohnungen öffnen, haben die letzten Grenzen zwischen Reisenden und Bleibenden teils schmerzhaft aufgehoben. Worüber nicht selten Nachbarschaften kaputt gingen. Erst neuerdings gibt's ein Zweckentfremdungsverbot.
Warum also nicht auch einen Verhaltens-Codex auflegen, der das frühmorgendliche In-den-Hauseingang-Kotzen, das lustvolle Herumpinkeln auf offener Straße und ähnliche, unter einigen jüngeren Touristen durchaus beliebte Sitten thematisiert? Von nächtlichen Lärm- und Müllfragen an Hotspots wie Schlesischem Tor und Warschauer Brücke ganz zu schweigen.
Eine vollpfostenmäßige Schnapsidee
Andererseits: Was ist das für eine vollpfostenmäßige Schnapsidee, wenn Berlin die Einhaltung des Kodexes weder gesondert überwachen kann noch überwachen will? Wenn es, kurz gesagt, nicht Singapur werden will? Und nennenswerte Verstöße ohnehin jederzeit geahndet werden können?
Im großen Ganzen rücken Touristen ja mit ähnlichen Ordnungsvorstellungen in Berlin an, wie sie auch die Hiesigen kultivieren. Bürgerliches Benehmen dominiert, aber asoziale Allüren fehlen nicht. Ein Faltblatt mit Benimmregeln dürfte diese Relation schwerlich ändern, mag auch einigen Berlin-Ekstatikern bei der Lektüre dämmern, dass sogar die liberalste Stadt des Universums zwei, drei Regeln braucht....
Man kann Monika Hermann, der Bezirksbürgermeisterin Friedrichshain-Kreuzbergs und damit auch krasser Party-Zonen, für ihren Codex-Vorstoß kaum tadeln. Dass sie so lautstark nach Gummirollen für nächtlich gerollte Rollkoffer ruft, senkt das Niveau allerdings ins Piefige.
Berlin braucht die Touristen dringlicher, als die Touristen Berliner Verhaltenskunde. Trotzdem bleibt fraglich, welchen Tourismus sich die Stadt in Zukunft wünscht.
Heute sieht es oft so aus, als würden viele Touristen immer noch die wilde, offene, experimentelle Stadt suchen und besuchen, die Berlin für viele Berliner längst nicht mehr ist.
Viele Hiesige haben vom Eroberungsmodus ihrer Ankunftszeit in den Verteidigungsmodus umgeschaltet. Sie möchten mittlerweile "ihr Berlin" bewahren. Die Stadt, die im Grunde ein Kontinent der Kieze ist, hat an Struktur und Ordnung gewonnen.
Womöglich kommen ja künftig vermehrt andere Touristen, wenn sich der atmosphärische Wandel herumspricht. Und das sind dann wohl Leute, die endgültig keine Benimmregeln mehr brauchen.
Mehr zum Thema