Bergtour mit Sinnestaumel

22.10.2013
Geradezu akribisch lässt Autor Glavinic seine Leser die Bergexpedition des Protagonisten Jonas nachvollziehen - und das Buch wird dabei kontinuierlich spannender. Zu schaffen machen Jonas die Höhe und die Erinnerungen an Marie. Offen bleibt, ob die Natur oder Liebe das größere Wunder ist.
Wunder haben etwas Erhabenes, sonst wären sie ja keine. Ob man ihre Größe messen oder vergleichen kann, ist schwer zu sagen. Der Held im neuen Roman von Thomas Glavinic, Jonas, versucht sich als Bergsteiger am Mount Everest, und er hadert damit, dass Marie ihn verlassen hat, die Frau seines Lebens.

Das Buch ist eine ehrfürchtige Hommage an die Gewalten der Natur und zugleich ein Roman über die Liebe, aber kein Liebesroman. Der Protagonist befindet sich in zwei Extremsituationen gleichzeitig. Seine Gefühlswelt könnte aufgebrachter nicht sein, und ihm steht eine riesige körperliche Herausforderung bevor. Er ahnt, dass er lernen muss, Ängste zu überwinden, aber das fällt ihm schwer. Eigentlich sollte ihm im Himalaya ja die Welt zu Füßen liegen, doch das kann er so nicht empfinden.

Und doch raubt ihm die Expedition schier den Atem. In einem ausgeklügelten Klettersystem vom Basislager zu den höheren Lagern und – abhängig vom Wetter – auch wieder zurück, muss sich sein Körper erst an die Höhe gewöhnen. Viele Teilnehmer drehen um, manche lassen ihr Leben, und auch ihm geht es nicht gut. Ein Husten quält ihn, aber mehr noch die Erinnerung an das bisher geführte Leben und vor allem an Marie.

Je näher er dem Berggipfel kommt, desto weniger kann er die Szenerie genießen. Die Erinnerungen an seine Kindheit engen ihn immer mehr ein. Der verunglückte kleine Bruder, der behindert war, taucht in seinen Gedanken auf, und auch ein prügelnder Stiefvater und die alkoholkranke Mutter. Doch auch tröstliche Erinnerungen gibt es: an Picco, den gütigen "Ersatz"-Großvater, der ihn ohne erhobenen Zeigefinger groß werden ließ.

Als Picco stirbt, vermacht er Jonas so viel Geld, dass dieser sich nie mehr Sorgen um seine Existenz machen muss und über viele Jahre das Leben eines exzentrischen Weltbürgers führen kann. Zum vollendeten Glück fehlt ihm nur noch die richtige Frau – Marie. Diese hat ihm nun sogar einen Brief ins Basislager geschickt, aber Jonas fühlt sich außerstande, diesen zu lesen. Als er beim Bergsteigen in die Todeszone des Everest gerät, sieht er sein Leben im Schnelldurchlauf und erlebt ein extremes Wechselbad der Gefühle.

Der Roman pendelt zwischen vielen Extremen hin und her. Glavinic erzählt von Jonas als Jugendlicher und junger Erwachsener sowie als Teilnehmer der Bergexpedition abwechselnd, im auktorialen Stil, das Buch wird dabei kontinuierlich immer spannender. Die Bergexpedition lässt er die Leser geradezu akribisch, Meter für Meter, miterleben. Dann wieder schweift er ins Metaphorische ab, etwa, wenn er seinem Helden die Fähigkeit andichtet, fast jede Sprache verstehen und sprechen zu können.

"Antworten werden überschätzt" – diese Aussage zieht sich leitmotivisch durch den Roman. Und so bleibt auch die Antwort auf die implizit gestellte Frage, welches denn nun das größere Wunder sei, die Liebe oder die Natur, offen. Thomas Glavinic, befragt zu seinem neuen Buch, zweifelt daran, ob er selbst es schon richtig begriffen habe. Antworten werden eben überschätzt.

Besprochen von Roland Krüger

Thomas Glavinic: Das größere Wunder
Carl Hanser Verlag, München 2012
528 Seiten, 22,90 Euro
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