Benjamin Blümchen und Co.

Wie Kinderhörspiele unsere Gesellschaft widerspiegeln

Plakat zum Kinofilm von Benjamin Blümchen, der hier mit Bibi Blocksberg auf einem Besen reitet.
Plakat zum Kinofilm von Benjamin Blümchen, der hier mit Bibi Blocksberg auf einem Besen reitet. © dpa/ picture-alliance/ dpa-Film Jugend
Von Simon Schomäcker · 25.07.2016
Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg begleiten Kinder seit Jahrzehnten, wie viele andere Hörspielklassiker. Wissenschaftler haben sich nun mit dem Gesellschaftsbild auseinandergesetzt, das sie transportieren. Wie anarchisch ist die kleine Hexe Bibi wirklich?
"Also wenn man Hörspiele sammelt - und abends beim Einschlafen hört, dass der Bürgermeister bei Benjamin Blümchen immer als grenzdebil dargestellt wird, dann stört man sich irgendwann schon aus einer wissenschaftlichen Perspektive daran und widmet sich dem Ganzen dann auch mal beruflich."
Oliver Emde ist Politik- und Gesellschaftswissenschaftler an der Universität Kassel. Seit frühester Kindheit faszinieren ihn Kinderhörspiele: Etwa 3.000 Titel umfasst Emdes Privatsammlung. Darunter sind neben Benjamin Blümchen auch viele andere bekannte Serien.
Gemeinsam mit Kollegen veranstaltet Oliver Emde regelmäßig Ringvorlesungen an der Uni Kassel. Darin betrachten die Forscher - zusammen mit den Studierenden - Kinderhörspiele ab den 1970er Jahren kritisch. Zu der Vorlesungsreihe ist nun ein Buch erschienen. Das Werk enthält insgesamt zehn Artikel, erklärt Mitherausgeber Lukas Möller:
"Wir haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gefragt: 'Hast du vielleicht ein Lieblingshörspiel? Gibt es ein Hörspiel aus deiner Vergangenheit, das dich besonders interessiert? Und möchtest du dieses Hörspiel noch einmal intensiv hören und analysieren und setzt dabei die Brille deines Forschungsfeldes auf?' Und so sind wir zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gekommen."

Benjamin Blümchen als Wutbürger

Als langjähriger Fan von Benjamin Blümchen hat Oliver Emde die frühen Folgen der Serie politikwissenschaftlich betrachtet. Dabei ist ihm aufgefallen: Die Autorin Elfie Donelly stellt Gut und Böse hier sehr klischeehaft gegenüber:
"Wir haben auf der einen Seite ein sehr negativ dargestelltes Bild der institutionalisierten Politik. Vielleicht erinnern Sie sich an den Bürgermeister, der immer eigennützige Entscheidungen trifft. Demokratie wird da als Herrschaftsform begriffen, in der Herrschende und Beherrschte immer ganz unterschiedliche Interessen haben. Auf der anderen Seite haben wir ein sehr lebendiges Bild von Demokratie, wenn wir die zivilgesellschaftlichen Akteure betrachten. Also wir haben Benjamin Blümchen und seinen Freund Otto, die sich für Sozialschwächere einsetzen, die bei Umwelt- und Ökologieproblemen auf die Straße gehen."
Oliver Emde und Lukas Möller legen mit ihrem Buch den ersten wissenschaftlichen Sammelband über Kinderhörspiele vor - und außer in Kassel gibt es nirgendwo Vorlesungsreihen dazu. Dennoch haben sich schon andere Forscher mit diesem Thema beschäftigt. So hat die Autorin Annette Bastian etwa den Begriff "Kassettenkinder" etabliert. Zu denen können sich die Kasseler Wissenschaftler jahrgangstechnisch selbst zählen, erläutert Lukas Möller:
"Das sind Menschen in den Geburtsjahrgängen der Siebziger und frühen und Mitte der 80er Jahre. Diese Kinder zeichnen sich dadurch aus, dass sie aufgewachsen sind mit Kinderkrimigeschichten - und dass sie auch über das Medium Kassette an Autonomie gewonnen haben, weil Kassetten eben im Kinderzimmer ohne die Kontrolle der Eltern gehört werden. Und deswegen ist die Kassette das Erkennungsmerkmal dieser Generation."

Pippi Langstrumpf passte hervorragend zu Adorno

Um Autonomie geht es auch in den Hörspieladaptionen über Pippi Langstrumpf. Lukas Möller hat die Produktionen aus Sicht der Erziehungswissenschaften untersucht. Als Argumentationsgrundlage diente ihm unter anderem ein Artikel des Soziologen Theodor W. Adorno aus den 1960er Jahren:
Lächelnd trägt die Schauspielerin Inger Nilsson in einem Film von 1968 als "Pippi Langstrumpf" ihr Äffchen "Herr Nilsson" auf der Schulter spazieren.
Pippi Langstrumpf überzeugt dadurch, dass sie Dinge gerne anders macht als Erwachsene von ihr verlangen.© picture alliance / dpa
"Adorno fordert dann ausdrücklich in seinem Text, der 'Erziehung nach Auschwitz' heißt: 'Wir brauchen Autonomie, die Kraft zur Reflexion, zur Kritik, zur Selbstbestimmung, die Kraft zum Nicht-Mitmachen. Wenn das nicht Einfluss hat in der Gesellschaft und der Erziehung, dann sind die Mechanismen immer noch am Werk, die zu etwas führen wie Auschwitz'."
Die sehr eindeutig dargestellte Autonomie Pippi Langstrumpfs kann als gutes Beispiel für eine Erziehung nach Auschwitz dienen, meint Lukas Möller. Eine seiner Studentinnen hat die Figur offensichtlich sehr stark berührt:
"Die hat gesagt: Ich habe es als Kind unglaublich schwer ausgehalten, dass Pippi Langstrumpf ständig die Regeln der Erwachsenen gebrochen hat und ständig die Erwachsenen infrage gestellt hat, weil sie damit die "braven" Bürgerkinder Thommy und Annika zu Unfug verführt hat."
Die frühen Folgen von Bibi Blocksberg wirken dagegen beim ersten Hinhören eher konservativ. Denn die Geschichten stellen Autonomie weniger plakativ dar, sagt Oliver Emde:
"Die Folgen sind ja in den 70er und 80er Jahren entstanden, also in einer Zeit, in der sich Politikformen und auch politische Themenfelder verändern - also die Umwelt- und Ökologiebewegung, die Frauenbewegung. Aber das bürgerliche Lebensmodell bleibt weiterhin in Kraft. Und genau das finden wir in Bibi Blocksberg auch wieder. Wir haben dort geschlechterspezifische Zuordnungen: Das Kochen oder das Putzen wird immer Barbara Blocksberg zugewiesen, Bernhard vertritt die Familie nach außen."

Bibi Blocksberg ist durch ihre Zauberkräfte mächtig

Dennoch: Der Autonomiegedanke spielt auch bei Bibi Blocksberg eine Rolle - wenn auch eher unterschwellig, erklärt Lukas Möller:
"Was wir feststellen können ist, dass ein Mädchen, das hexen kann, oder Frauen, die hexen können, unglaublich mächtig sind. Aber wir erleben in Bibi Blocksberg, dass das Hexen eingesetzt wird für eher frauentypische Tätigkeiten: Sie sind hilfsbereit, sie bleiben im Kleinen klein."
Die dargestellten Stereotype sollten aber kein Grund dafür sein, Kindern die untersuchten Hörspiele vorzuenthalten, meint der Erziehungswissenschaftler:
"Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe von Kindern und Jugendlichen ist, Dinge zu hinterfragen, die erstmal als selbstverständlich gelten. Das können Kinder auch gar nicht. Bibi Blocksberg, auch Benjamin Blümchen, transportieren Werte, Normen, Haltungen ihrer Entstehungszeit. Und das ist eben nicht zeitlos und das ist auch nicht wertfrei. Aber es ist trotzdem nicht uninteressant, sich das bewusst zu machen, wenn man eine Bibi-Blocksberg-Kassette der 80er Jahre einlegt."
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