Behandlung ohne Krankenkarte

Notaufnahme für den Mittelstand

Der Arzt Uwe Denker aus Bad Segeberg packt in seinem Privathaus in Bad Segeberg seine Utensilien zusammen.
Der Arzt Uwe Denker aus Bad Segeberg packt in seinem Privathaus in Bad Segeberg seine Utensilien zusammen. Er bietet Medizin für Mittellose an. © picture alliance / dpa
Von Alexa Hennings · 27.05.2014
Um benachteiligten Patienten ohne Krankenkarte zu helfen, gründete ein pensionierter Arzt vor fünf Jahren in Bad Segeberg die "Praxis ohne Grenzen". Ein Erfolgsmodell, das aber andere Bedürftige anzieht als gedacht. Nun wurde in Hamburg eine weitere Praxis eröffnet.
Jeden Mittwoch um 15 Uhr wird am Kirchplatz von Bad Segeberg die "Praxis ohne Grenzen" aufgeschlossen. Heute ist Dr. Uwe Denker dran. Der pensionierte Facharzt für Allgemeinmedizin und Kinderheilkunde teilt sich den Dienst mit vier Kollegen und zwei Arzthelferinnen. In ganz Schleswig-Holstein sind es rund 30 Ehrenamtler. Ein Tropfen auf dem heißen Stein. Offiziell gibt es in Deutschland 138 000 Menschen ohne Krankenversicherung, Denker schätzt die Zahl viermal so hoch.
Vom Stuhl bis zur Liege ist in der Praxis am Kirchplatz alles gespendet. Oder billig erstanden. Der froschgrüne Arzneischrank für 10 Euro von der Bundeswehr. Der Schreibtisch vom Gynäkologen geschenkt. Die Verbandstoffe lagern im Wartezimmer in einem Küchenschrank vom Möbel-Discounter.
"Das ist hier eine ehemalige Küche, umfunktioniert. Hier die Weltkarte an der Wand, damit wir sehen können, wo unsere Patienten herkommen. Da oben, das ist Innere Mongolei, wenn ich das richtig gesteckt habe. Oder ist das Novosibirsk? Weiß ich gar nicht mehr so genau. Und dann steckt auch ein Fähnchen in Portugal, Frankreich, England, Syrien, Irak, Iran. Aus Gaza haben wir jetzt eine Patientin, die regelmäßig kommt. 400 Patienten sind bisher hier gewesen in der Praxis. In ganz Schleswig-Holstein, alle Praxen zusammen, sind etwa 1000 Patienten, die behandelt wurden und beraten worden sind."
Es gibt Krebspatienten, denen Schmerzmittel versagt werden
Unter der Weltkarte steht ein Tischchen, darauf säuberlich gestapelt einige Schals und dicke Socken. Gestrickt von Patienten.
"Die Belohnung kriegen wir eigentlich durch den Dank der Patienten. Das ist viel mehr wert als irgendwelche Auszeichnungen. Ich krieg mal 'nen schönen Schal geliefert, damit ich mich nicht erkälte. Das ist irgendwie nett. Diese Stricksachen legen wir dann im Wartezimmer aus. Die werden dann mitgenommen. Einen Schal hab ich für mich privat auch."
Acht Stühle stehen in dem kleinen Wartezimmer. Am Fenster ein Tisch.
"Bisher haben die Stühle gereicht. Aber ich denke, wir müssen hier bald ausbauen. Den Tisch wegnehmen und dann Stühle hinstellen. Wenn der Ansturm weiter zunimmt."
Uwe Denkers Frau Christa kommt herein. Sie macht mit in der "Praxis ohne Grenzen", ebenso wie seine ehemalige Arzthelferin aus der Zeit, als er selbst noch eine Praxis hatte in Bad Segeberg.
"Letzten Mittwoch, da haben wir gearbeitet von 15 bis 20 Uhr. Als wir kamen, da saßen die Patienten – das Wartezimmer war voll – und die saßen schon im Flur auf dem Boden und auf der Treppe. Ich dachte: Das kann nicht wahr sein!"
Das denkt man hier öfter: Das kann nicht wahr sein. Eigentlich wollte der 74-jährige Arzt Obdachlosen und Armen helfen, die es ohne Versicherungskarte schwer haben, irgendwo behandelt zu werden. Gleich um die Ecke betreibt die Diakonie eine Tafel. Da kannst du helfen, dachte sich der Mediziner.
"Die Leute, die ich erwartet habe, sind überhaupt nicht gekommen! Ich hatte die erwartet, die hier bei der Tafel anstanden und sich Lebensmittel holen. Zunächst waren wir etwas irritiert. Es kamen plötzlich Patienten aus dem Mittelstand. Die aus irgendwelchen Gründen ihre Krankenkassenbeiträge nicht mehr zahlen konnten. Die plötzlich erkrankt waren, dadurch keinen Verdienst mehr hatten, dann schwer erkrankt waren, dramatisch erkrankt waren. Und denen wir dann versucht haben zu helfen."
Dass es Krebspatienten gibt, denen Schmerzmittel versagt werden, weil sie beim Krankenhaus noch offene Rechnungen haben oder Menschen mit Herzinfarkt, denen der lebensrettende Stent nur dann gelegt wird, wenn sie die Rechnung über 5000 Euro begleichen – das hatte sich Uwe Denker nicht träumen lassen. So etwas war ihm in seiner fast 50-jährigen Berufspraxis im beschaulichen Bad Segeberg – bekannt durch die alljährlichen Karl-May-Spiele – nicht untergekommen.
Verein hat 180 Helfer
"Da sind wir auf ein Phänomen gestoßen, das wir vorher nicht wussten, auch die Ärztekollegen nicht und die Politiker: Dass der Mittelstand ins Straucheln kommt hier in der Republik. Und das hat uns doch sehr, sehr alarmiert. Um nur mal einige Beispiele zu nennen, was sind das denn für Leute, die hier erschienen sind? Da gibt es hier ´ne längere Liste. Das ist also der Stahlbauingenieur, es ist der Taxiunternehmer, der Gastronom, der Kaufmann, der Web-Designer, der freie Verlagsmitarbeiter, der Tischler, Dachdeckermeister, Schlachtermeister, Heilpraktikerin, Ärztin. Und so weiter, und so weiter. Ein Riesen-Team, das hier erscheint. Der Transportunternehmer, der Diplom-Volkswirt, der Maurermeister, der Straßenmusikant eben auch."
Auch an diesem Mittwoch sitzen keine Migranten ohne Papiere oder EU-Bürger ohne Krankenversicherung im Wartezimmer. Wie Uwe Denkers Fähnchen auf der Weltkarte zeigen, kommen natürlich auch sie hierher. Auf 180 Helfer kann sich der Verein "Praxis ohne Grenzen" stützen, fast alle Facharztbereiche sind abgedeckt, ein Labor macht kostenlose Blutuntersuchungen. Nur ein Zahnarzt fehlt noch. Ein großer, kräftiger Mann Anfang 40 legt die "Geo" weg, die im Wartezimmer zum Lesen ausliegt.
"Das ist die fehlende Krankenversicherung, deshalb sitzt man hier. Ich habe hohen Blutdruck, der soll behandelt werden und muss behandelt werden. Und leider im Moment keine Möglichkeit, in die gesetzliche Krankenkasse zu kommen."
Ein typischer Fall für Dr. Denker. Ein selbstständiger Unternehmer, ehemals in der gesetzlichen Kasse versichert, dessen Geschäft gescheitert ist. Der vor dem Scheitern, um weiter zu überleben, an den Krankenkassenbeiträgen sparte. Sparen musste: Im Einzelfall müssen bei privaten Kassen bis zu 900 Euro im Monat, bei gesetzlichen Kassen bis zu 600 Euro aufgebracht werden. Viele Selbstständige sichern sich privat ab, weil dies in jüngeren Jahren billiger ist.
Doch steigende Beiträge im Alter und die Tatsache, dass man auch bei gesunkenem Verdienst in der privaten Kasse gleich hohe Beiträge zahlen muss, führen oft zu hohen Schulden. Im Falle säumiger Beiträge wurde diesen Patienten – ob privat oder gesetzlich versichert - gekündigt, zum Teil kündigten sie selbst. Doch die Schulden bei den Krankenkassen bleiben erhalten und wurden bis vor kurzem mit 5 Prozent verzinst, neuerdings nur noch mit einem Prozent. So kommen schnell 20.000 bis 30.000 Euro zusammen.
Deswegen geraten die in eine Schuldenfalle durch ihre Krankenkasse und kommen nicht wieder raus. Nun hat es ein Beitragsentschuldungsgesetz gegeben letztes Jahr. Aber das war uneffektiv. Es war zum einen begrenzt bis zum 31.12., eine sehr, sehr kurze Frist nur, wo die Leute sich ummelden konnten. Und die Krankenkassen haben sich auch dagegen gewehrt, die haben da Schwierigkeiten gemacht. Leute wieder aufzunehmen. Im Grunde hat es nichts gebracht.
Nach Recherchen des "Spiegel" sind es gerade mal vier- bis fünftausend Personen, die 2013 zurückkehren konnten – von offiziell 138.000 Nichtversicherten und einer vierfach höheren Dunkelziffer. Seit 2009 dürfen Krankenkassen keinem Patienten mehr kündigen, eine Grundversorgung muss erhalten bleiben. Aber die Schulden bleiben auch erhalten – und hindern Patienten, denen vor 2009 gekündigt wurde, an der Rückkehr. So wie den ehemaligen Geschäftsinhaber, der jetzt im Bad Segeberger Wartezimmer sitzt.
"Das ist dieses Paradoxum: Man soll die säumigen Beiträge bezahlen mit horrenden Zinsen auf diese ausstehenden Beiträge. Aus Solidaritätsgründen. Aber ich frag mich immer: Keiner war ja nicht krankenversichert aus Spaß, sondern weil er es nicht zahlen konnte. Wie soll er denn das Geld haben? Die rückständigen Beiträge in der Summe plus Zinsen zu bezahlen? Das ist mir immer ein Paradoxum. Ja, und deswegen ist man hier. Und wenn Sie hier sitzen, ich bin ja nun schon zwei, dreimal hier gewesen, hier sitzen fast nur normale Leute. Nicht das, was man denkt oder erwartet. Weil andere, die gar nichts haben, werden aufgefangen vom System. Die haben es da leichter."
Der Verein darf keine Medikamentenspenden annehmen
Das "System" sieht sie nicht vor, die gescheiterten Mittelständler. Die oft weiter arbeiten, trotz drohender oder vollzogener Insolvenz weiter wurschteln, die dafür zum Beispiel noch ihr Auto brauchen, die nicht alles verscherbeln können, weil sie ja weiter kämpfen, um nicht ganz unten zu landen.
"Ich habe noch keine Leistungen bezogen, keinen Tag. Ich habe weder Hartz IV einen Tag bekommen. Ich habe kein Arbeitslosengeld bekommen, ich habe noch nie staatliche Hilfen in irgendeiner Weise in Anspruch genommen.Glauben Sie mir, meine Bekannten wissen nicht, dass ich hier heute sitze. Das ist nichts, worauf man stolz ist. Das ist schwierig. Aber auf der anderen Seite ist es gut, dass es sowas gibt. Da hofft man, dass man, wenn es wieder besser geht, die Gelegenheit hat, wenn es mal wieder besser geht, sich zu revanchieren und was zurückzugeben."
Der Mann wird von der Arzthelferin zum Blutdruckmessen gerufen. Immer noch ist er zu hoch, stellt sich heraus. Uwe Denker wird Rat wissen. Und Medikamente verschreiben. Bezahlt werden sie aus Spenden. Nur Geldspenden darf der Verein "Praxis ohne Grenzen" entgegen nehmen, keine Medikamente – selbst wenn sie originalverpackt sind, verschlossen und noch nicht abgelaufen. Ein Gesetz verhindert das. Auch noch so ein Wahnsinn aus Uwe Denkers Sicht, gegen den man kämpfen sollte.
"So werden hier in der Region Segeberg nur in diesem Bereich Medikamente in einem Jahr verbrannt in einer Größenordnung von 22 Tonnen. Das kann nicht wahr sein, da gehen Werte verloren, die könnte man noch verwenden."
Ein älterer Herr in Lederjacke hat inzwischen im Wartezimmer Platz genommen. Er sei extra aus Hamburg angereist, erzählt er. Schon seit drei Jahren ist der Diabetiker hier in Segeberg in Behandlung.
"Damals war es so bei mir, 2007, zwei Monate nicht gezahlt – zack, raus. Es kümmert sich keiner um Sie. Ich habe Glück gehabt, dass ich nicht krank geworden bin."
Die Krankheiten kamen später. Da ihm seine Krankenkasse gekündigt hatte, konnte er jahrelang nicht zum Arzt gehen. So blieb sein Diabetes-Leiden lange unentdeckt. Folgekrankheiten kamen hinzu. Der 64-Jährige, der als Freiberufler in der Immobilienbranche arbeitet, ist seit Beginn diesen Jahres zwar wieder krankenversichert, seine private Kasse musste ihn wieder aufnehmen. Dazu ist sie seit 2009 sogar verpflichtet – auch wenn es dann nur der Basistarif ist.
Der Haken: Er muss die Medikamente in der Apotheke zunächst selbst bezahlen – wozu er nicht in der Lage ist. Die Zeit bis zur Rückerstattung durch die Krankenkasse kann er bei einer Medikamentenrechnung von mehr als 200 Euro nicht überbrücken.
"Ich bin froh, dass es das alles gibt. Weil ich hab mich vor drei Jahren schon unter der Brücke gesehen. Was glauben Sie, wie viel Tränen ich schon – in der Anfangsphase, ich kannte das alles gar nicht! Da kommen sie alle aus ihren Höhlen raus. Von den Banken angefangen. Nicht mit 100 Euro monatlich den Dispo zurückzuführen, sondern 500 müssen es schon sein. Ich sag: Wo soll ich die denn hernehmen? Ach, Sie haben doch bestimmt Freunde, Bekannte und Nachbarn, die Sie fragen können. Haben Sie schon mal Nachbarn gefragt, wenn Sie in Not sind?"
Ein schmächtiger Mann mit einer Plastetüte unterm Arm ist hereingehuscht. Ein selbstständiger Tischler aus Schwerin. Einmann-Betrieb.
"Beschäftigt selbstständig bin ich seit 2004. Reingerutscht bin ich so: Man hat immer ordentlich gearbeitet und alles Mögliche. Der eine hat mal bezahlt, der andere nicht. Oder zwei Monate später. Und denn, tja, Schulden wollte man keine machen oder den Dispo überziehen – dann habe ich einfach die Krankenkasse gekündigt. Und das Finanzamt, das ist ja auch gnadenlos und will auch sein Geld haben. Und denn hetzt man eben von einem Job zum anderen. Und wartet, dass der eine bezahlt und der andere nicht. Na ja, jedenfalls ist es nicht schön, wenn sie nicht bezahlen oder so."
Dieser Druck kann auch bei einem Nichtraucher und Freizeitsportler wie dem 51-jährigen Handwerker aus Schwerin zur lebensbedrohlichen Katastrophe führen. Anfang 2014 war es so weit, sagt der Mann und klopft mit der Hand auf seine Brust. Brustdrücken. Beschwerden bei Belastung. Das deutete auf einen Herzinfarkt hin.
Zum Glück hatte der Tischler im Internet die "Praxis ohne Grenzen" gefunden. Er rief Dr. Denker an, der ihm abriet, mit diesen akuten Schmerzen ins Auto zu steigen und nach Segeberg zu kommen. Er riet ihm, sich sofort in der Apotheke ein Notfallspray zu besorgen. Die Apotheke verweigerte ihm jedoch das Medikament, da er kein Rezept dafür hatte.
"Daraufhin habe ich dann die Apotheke, es war inzwischen die Nachtdienst-Apotheke, angerufen und gesagt: Gebt ihm das Rezept, hier ist Dr. Denker, Praxis ohne Grenzen aus Bad Segeberg. Sie können nachgucken oder mir ein Fax schicken, dass ich tatsächlich existiere. Im Internet haben wir eine Website. Nein, das wollte sie alles nicht. Wenn er kein Rezept hat, kriegt er nichts! Da war ich richtig sauer. Wirklich stinke sauer. Das ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert! Kommt häufiger vor, dass ich Apotheken anrufen muß. Da hat das immer geklappt. Aber so rigoros mich abzubügeln, das war sehr, sehr ärgerlich. Ja, und dann blieb mir eben nichts anderes übrig, als dem Patienten zu sagen: Geh in dein Krankenhaus, auch wenn sie dich möglicherweise schon abgewiesen haben und dich nicht behandeln wollten. Ich übernehme die Kosten. Und dann habe ich mit dem Arzt dort telefoniert, dem Rettungsdienstarzt. Er kannte die Praxis ohne Grenzen leider auch nicht. Und er hat dann den Patienten aufgenommen bzw. am nächsten Tag wieder bestellt zum Herzkatheder. Und dann hat er die Stents gekriegt, die er dringend brauchte."
In Hannover starb ein Kind, weil Mutter keinen Einweisungsschein verlangte
Oft werden Menschen ohne Krankenkarte oder Überweisungsschein selbst in akuten Notfällen von den Krankenhäusern abgewiesen. Manchmal scheitern sie schon an der Dame in der Aufnahme, die möglicherweise einen Notfall nicht erkennt. So geschehen im April 2014 in der Kinderklinik in Hannover, wo man von einer Mutter aus Ghana, die mit ihrem Baby kam, einen Einweisungsschein verlangte. Das Kind hustete stark und verstarb eine Stunde später, als die Frau mit dem Schein wieder auf dem Weg in die Klinik war. Ebenfalls abgewiesen wurde ein Mann aus Brandenburg mit Nierenkrebs im Endstadium. Ihm wurden die Schmerzmittel versagt, da er noch offene Rechnungen beim Krankenhaus hatte. In diesem Fall konnte der Segeberger Verein helfen. Er übernahm die Rechnung und beglich sie aus Spendenmitteln - ebenso wie bei einem Hamburger Infarkt-Patienten. Dieser Hamburger Patient mit dem Herzinfarkt sagt das ganz glasklar:
"Als die mich abgewiesen haben, war das eigentlich ein Todesurteil. Und er hatte zufällig übers Internet von der Praxis ohne Grenzen hier in Bad Segeberg gehört. Was in anderen Orten passiert, ich weiß es nicht. Was passiert in München, was passiert in anderen Städten der Bundesrepublik?"
Der Schweriner Tischler geht in den Behandlungsraum. Inzwischen hat er die zweite Herz-Operation hinter sich.
"Was gibt's zu berichten?"
"Ab und zu macht es sich bemerkbar. Wenn man aufgeregt ist."
"Wenn Sie Treppen steigen, haben Sie da Probleme?"
"Nee."
"Haben Sie dicke Beine, dicke Füße?"
"Auch nicht."
"Haben Sie an Gewicht ab- oder zugenommen?"
Uwe Denker ist zufrieden. Und hat einen Vorschlag.
"Was wir gerne noch gemacht hätten, wäre eigentlich noch mal so eine Rehabilitationsbehandlung. Dass Sie noch mal über Lebensführung und dergleichen alles Mögliche lernen. Das kann man ambulant machen. Da würden wir die Kosten auch übernehmen wollen, um Sie wieder voll fit zu kriegen. Gut, ich will noch einmal kurz abhorchen. Bitte mal auf die Liege setzen und Oberkörper frei machen."
Der Patient, der in Schwerin zu keinem Arzt gehen kann, weil er nicht versichert ist, ist gerührt. So viel Fürsorge, nun auch noch eine Reha-Behandlung. Zum Abschied ist die Rührung auf Seiten des Doktors und seiner Helferinnen. Der Tischler kramt in seinem Plastebeutel und stellt einen Schokoladenhasen auf den Tisch.
"Oh, danke, danke!"
Die Arzthelferin Christa Denker schaut ins Wartezimmer und schickt den nächsten Patienten zu ihrem Mann. Kurze Pause für sie.
"Das hier hat viel mehr soziale Aufgaben zu erfüllen, diese Praxis. Also versuchen, diese Patienten wieder in eine Versicherung zu bekommen. Die tauchen in den normalen Praxen nicht auf. Und was mir dann gleich auffiel, dass keiner schimpft, weil er lange warten muss. Auch letzte Woche nicht, die haben von 15 bis 20 Uhr hier gesessen. Da ist nicht ein Wort gefallen. Das würden Sie in einer normalen Praxis nicht erleben. Da geht es schon nach einer viertel Stunde: Ich hab doch einen Termin, wann bin ich denn nun dran? Das ist hier überhaupt nicht. Die sind dankbar, dass sie kommen können. Und seelsorgerisch ist schon eine Tätigkeit, genauso wie Hinweise auf die Tafeln und wo sie Garderobe herbekommen vom DRK. Von denen, die Sie heute gesehen haben, gehen mehrere zur Tafel und holen sich da ihre Essensvorräte. Das denkt man nicht, wenn man sie sieht, nein. Sie versuchen auch, das zu vertuschen. Kann ich auch verstehen."
Für eine "Grundversicherung für alle"
An diesem Tag kommen noch drei Frauen in die Praxis. Zum Schluss eine Familie mit einem Kind.
"Meine Frau war schwanger. Meine Frau kommt aus Rumänien, ihre Familie ist, wie soll ich sagen, ziemlich arm und sie hat keine Versicherung. Und wir wussten nicht, wie wir die Kosten der Geburt tragen sollten. Zu der Zeit war ich gerade arbeitslos, ich bin gerade von Hamburg nach Neumünster gezogen und hatte keinen Job. Von daher unmöglich, die 4500 bis 5000 Euro für eine Entbindung selber zu tragen. Absolut unmöglich. Kein Krankenhaus, niemand wollte uns helfen. Der einzige, der sich für uns eingesetzt hat, war Dr. Denker. Der das Geld dann mit einem Spendenaufruf vorstrecken konnte. Dann, als wir geheiratet haben, wurde meine Frau rückwirkend krankenversichert und hat das Geld dann wieder bekommen und das konnte dann so zum Glück zurückgezahlt werden."
"Lebensstart" hatte Uwe Denker damals die Spendenaktion genannt. Die Freude, jetzt einem gesunden, zweijährigen Mädchen gegenüberzusitzen, ist dem ehemaligen Kinderarzt anzusehen. Er strahlt. Und holt eine kleine Schachtel hervor.
"Karina, soll ich mal für dich zaubern? Pass mal auf, soll ich dir was zaubern?"
Schwuppdiwupp liegt in der eben noch leeren Schachtel ein Stück Schokolade.
"Oh, Schokolade."
So ein bisschen zaubern können, das wäre was. Der Segeberger Mediziner würde eine "Grundversicherung für alle", wie er sie nennt, aus dem Kästchen zaubern. Einen Krankenhauszugang für alle Notfälle aus dem Hut ziehen. Ein Hilfspaket – wie das für gestrauchelte Banken - für gestrauchelte Mittelständler aus dem Ärmel schütteln.
"Wir leben ja hier zwischen zwei Meeren und wir kennen Deichschutz. Und wir sind Deichschützer. Wir schützen vor der Flut der Armut, die auf uns zukommt. Garantiert. Der Deich ist schon aufgeweicht und wir haben Katastrophenalarm gegeben."
Und so hat sich der Arzt auf seine alten Tage nicht nur den weißen Kittel wieder angezogen, sondern kämpft auch noch für die Änderung der Gesetze, die zu dem Krankenversicherungsdesaster geführt haben. Beim Bundespräsidenten hat er schon vorgesprochen. Brüssel hat er fest im Blick.
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