Autobiografie

Zur Tragik ist es immer nur ein kleiner Schritt

George Tabori am 15. Juni 2004 in Wien.
Jede Schicksalswendung ist gut für eine Anekdote: Theatermacher George Tabori © picture-alliance/ dpa / Roland Schlager
Von Wolfgang Schneider · 14.05.2014
Zum 100. Geburtstag wird George Taboris Autobiografie posthum ergänzt: Der Teil "Exodus" beschäftigt sich mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Seine Jahre als Auslandskorrespondent waren hart, häufig skurril - aber es waren auch seine "schönsten und aufregendsten Jahre". Ein Buch eines seltenen Genres: Es ist tatsächlich zu kurz geraten.
Mit einem Lachen kommt er auf die Welt: Der Hausarzt Dr. Wehmut hat der Mutter empfohlen, durch forciertes Lachen die Unterleibsverspannung zu lösen und den stockenden Geburtsvorgang voranzutreiben. Mit dieser Anekdote aus dem Jahr 1914 beginnen Taboris Erinnerungen, und es bleibt dabei: Jede Schicksalswendung, jedes Verhängnis ist gut für eine Anekdote. Der Theatermacher ist als Prosa-Autor jederzeit wirkungsbewusst. Man hört beim Lesen beinahe das imaginäre Lachen eines Publikums, das die Pointen goutiert. Humor als Waffe gegen die Zumutungen von Leben, Politik, Geschichte.
Atmosphäre eines skurrilen Agentenromans
2002 erstmals erschienen, ist "Autodafé" nun um 60 Seiten erweitert worden. Dieser fragmentarische zweite Teil mit dem Titel "Exodus" skizziert die Odyssee Taboris in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. 1940 verbringt er als "Auslandskorrespondent" in Sofia. Er lebt in Hotels und kann oft die Miete nicht zahlen, wenn die Überweisungen nicht eintreffen. Trotzdem genießt er seine Tage in einer Atmosphäre wie aus einem skurrilen Agentenroman: Jeder ist verdächtig, für die eine oder andere Seite zu spionieren. Manches, was Tabori hier in knappen, plastischen Szenen erzählt, würde sich als Vorlage für eine Komödie à la Billy Wilder eignen. Zur Tragik aber ist es immer nur ein kleiner Schritt.
Als britischer Radio-Offizier sendete er keinen einzigen Beitrag
Als sich das neutrale Bulgarien den Achsenmächten anschließt, kann sich Tabori gerade noch rechtzeitig nach Istanbul absetzen, wo er sein Journalistenleben trotz der an Stasi-Allgegenwärtigkeit erinnernden, allerdings südlich entspannten Polizeiüberwachung fortsetzt. Schließlich wird auch in Istanbul der Boden zu heiß; er täuscht einen Selbstmord vor und flüchtet weiter nach Jerusalem. Dort leistet First Lieutenant George Turner, wie er nun heißt, Radioarbeit für die BBC. Wiederum eine Farce, wie sich später herausstellt: Aus technischen Gründen konnte nicht gesendet werden, niemand hat die von Tabori eifrig produzierten Beiträge gehört.
Charakter eines Schelmenromans
Europa versank im Blutbad, der Vater wurde in Auschwitz ermordet, Freunde in Buchenwald, und doch bekennt Tabori: Die Kriegsjahre in Sofia, Istanbul und Jerusalem seien "die schönsten und aufregendsten Jahre meiner Jugend" gewesen. Dieser erlebte Widerspruch wurde prägend für sein Leben. Und er verleiht seinem Erinnerungsbuch den Charakter eines Schelmenromans.
Das gilt auch für die erotischen Konfessionen, die regelmäßig groteske Züge haben – bis hin zu einem Säbelduell mit einem Nebenbuhler. Seine sexuelle Initiation erlebt Tabori bereits als Achtjähriger, umklammert von den Schenkeln eines nymphomanen Kindermädchens. Cousinen meinen es gut mit ihm; schließlich nimmt ihn auch der Vater, mit Einverständnis der Mutter, zur längst nicht mehr nötigen "Aufklärung" und "Mannwerdung" in ein Bordell mit. Kuriose Sitten. Als er in Berlin um 1933 eine Ausbildung im Hotelfach absolviert, ereignen sich dort die letzten Straßenschlachten zwischen Kommunisten und Nazis, bevor der Bürstenschnäuzer stilbildend wird. Mehr interessiert den jungen Kellner Tabori der phänomenale Busen der Tochter seines Chefs.
Ein Buch, das zu kurz ist
Vom gar nicht so schlechten Gefühl, ein "Fremdling" unter den Menschen zu sein, erzählt dieses Buch. "Erinnerung, sprich", hat Taboris Lieblingsautor Vladimir Nabokov selbstbewusst gefordert. "Meine Erinnerung stammelt und springt undeutlich hin und her", entgegnet Tabori. Es gibt Bücher, die zu kurz sind. Taboris Erinnerungen gehören zu diesem angenehmen Genre.

George Tabori: Autodafé und Exodus
Wagenbach Verlag, Berlin 2014
160 Seiten, 19,90 Euro