Ausweitung der Übungszone

11.02.2010
Es klingt wie ein Ratgeber im Stil der ultimativen Diät oder "Wie Sie fit bleiben", ist aber ein sprachwitziger und höchst vergnüglicher – wenn auch anstrengender – Ritt durch 3000 Jahre Kulturgeschichte auf allen Kontinenten.
Sloterdijk schrumpft die Rolle der Religionen zu einer Art Gefahrenabwehrzauber, zu einer psychologischen Immunisierungsstrategie gegen reale oder eingebildete Gefahren. Religionen gebe es eigentlich gar nicht, sie seien – so wie die ganze Kulturgeschichte - nichts anderes als fantasievoll aufgefächerte Abwehrrituale, immer weiter und immer wieder verfeinert und eingeübt.

Nur zögerlich sei über Alternativen nachgedacht worden. Auf dem Grund aller Kulturen wirke eine Innovationsfeindschaft, glaubt Sloterdijk, eine Abwehr des Anderen, des Fremden, des Neuen als barbarisch, ketzerisch, verblendet.

Sloterdijk wettert nicht nur gegen den Monotheismus, sondern gegen alle Systeme, die immer nur das Eine und die Einheit wollen, die Andersdenkende (manchmal im Wortsinn) verteufeln, also zum Inbegriff des Bösen stempeln müssen.

Die sicherste Methode, solche Religionen bloßzustellen, sei eine zu gründen, spottet er – und spielt diese provokante These durch am schlichten Beispiel "Scientology". Religionen seien Verhaltenslehren, blind und unaufhörlich wiederholte Übungen, die ein kulturelles Band, eine Gemeinschaft begründen. Götter seien Erfindungen, um diese wünschenswerten Verhaltensformen zu rechtfertigen.

Dagegen setzt Sloterdijk das autogene Training des Einzelnen, das Grundmotiv der Aufklärung: Die Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, also aus der religiös und politisch erwünschten Faulheit, selber zu denken.

Disziplin und Training seien für diese Selbstbefreiung genauso wichtig wie für das religiöse Leben, aber mit anderem Ziel, nämlich: Um das Spektrum menschlicher Erfahrungs- und Verhaltensmöglichkeiten zu erweitern – das meint Sloterdijk mit dem Begriff "vertikale" Entwicklung, Aufwärtsentwicklung statt bloß "horizontaler" Weiterentwicklung: Auf eine höhere Ebene, wo wir gleichsam einen größeren Überblick über unsere Lebenschancen haben, bewusster und begründeter wählen können.

Dazu brauche es keine Götter, sondern nur eine "allgemeine Immunologie", so Sloterdijks Ausdruck, d. h. eine bewusste Auswahl dessen, was uns gut tut, das sei, ganz ohne göttliche Autorität, ein modern aufgeklärter und zugleich humanitärer Ersatz für die alte Metaphysik.

"Ich finde den Begriff Religion falsch und schädlich. Auch steckt in ihm ein Teil des europäischen Kulturimperialismus", verkündete er in einem Interview. "Ich werde zeigen, dass eine Rückwendung zur Religion ebenso wenig möglich ist wie eine Rückkehr der Religion – aus dem einfachen Grund, weil es keine 'Religion' und keine 'Religionen' gibt, sondern nur missverstandene spirituelle Übungssysteme", heißt es in der Einleitung zu diesem Buch.

Wo die Götter ihre Autorität eingebüßt haben, das richtige Leben zu diktieren, sei eine neue Autorität entstanden, mit ähnlicher Machtfülle: die Krise. Die Gefahr der Selbstauslöschung durch blindes Weiterwursteln, die kein Gott ahnen (geschweige kodifizieren, d. h. seinen Propheten in die Feder diktieren) konnte, zwinge uns, unsere kulturellen Selbstverständlichkeiten, ja unsere ganze Lebensform zu überdenken, neu zu gestalten. Wir müssen unser Leben ändern.

"Es gibt kognitiv Neues unter der Sonne", behauptet hoffnungsvoll der Autor – das Buch will es vorstellen.

Besprochen von Eike Gebhard

Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Religion, Artistik und Anthropotechnik
Suhrkamp Verlag, Berlin 2009
480 Seiten, 24,80 Euro