Außenpolitik unter Angela Merkel

Von Claus Leggewie · 04.09.2005
Bundesdeutsche Außenpolitik zeichnet sich seit 1949 durch fast ungebrochene Kontinuität aus, woran sich - aus deutscher Sicht – mit dem Regierungswechsel 1998 nichts ändern sollte und im Herbst 2005 erneut nichts ändern soll.
Als "Staatsräson" (Waldemar Besson) war Westdeutschland vorgegeben, die amerikanische Führung zu akzeptieren, Westeuropa zu stärken, den Ausgleich mit der Sowjetunion zu suchen (wozu die Hinnahme der deutschen Teilung zählte) und der Dritten Welt ein guter Partner zu sein. 35 Jahre später, nach dem Fall der Mauer und dem Ende der Sowjetunion, bleiben die atlantische Gemeinschaft und das erweiterte Europa die großen Konstanten.

Verändert haben sich freilich die Koordinaten: 1999 mit dem ohne UN-Mandat gewagten Kosovo-Einsatz der Bundeswehr und 2001 mit dem Auftreten des radikal-islamistischen Terrors. Der Ost-West-Antagonismus wurde durch einen US-amerikanischen Unilateralismus mit imperialen Dimensionen abgelöst, während die europäische Wiedervereinigung, durchaus mit Verve begonnen, nach dem Scheitern der Verfassung ins Stocken geraten ist. Mag die deutsche Seite noch so sehr um Kontinuität bemüht sein und ihr supranationales und multilaterales Erbe hervorkehren, das globale Spiel hat sich grundlegend gewandelt.

Damit ist die rot-grüne Außenpolitik nicht fertig geworden. Indem "Deutschland auch am Hindukusch verteidigt wird" (Verteidigungsminister Struck), hat sie die famose "Kultur der Zurückhaltung" abgelegt, ohne der amerikanischen Irak- und Nahostpolitik, zusammen mit Paris und Moskau, eine diplomatische Alternative entgegensetzen zu können. Der ständige Sitz im UN-Sicherheitsrat dürfte eine Illusion sein, die Verhandlungen mit dem Iran stecken in der Sackgasse, die Missionen auf dem Balkan und in Afghanistan stehen auf der Kippe, und bei der Befriedung des Mittleren Ostens spielt Europa kaum eine Rolle. Schon die Aufnahme der Türkei in die EU, von Joschka Fischer zum Eckstein einer friedlichen Nahoststrategie erklärt, dürfte scheitern.

Eine Unions-Regierung in Berlin wird sich vor allem um die Reparatur der transatlantischen Beziehungen bemühen, auch um bessere Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten, vor allem zu Polen, wo die Russlandfreundlichkeit Schröders besonders negativ empfunden wurde. Aber mehr als Floskeln bekommt man von den designierten Außenministern nicht zu hören, die Joschka Fischer beerben möchten: In Washington bitten sie um Schönwetter, wollen aber auch kein militärisches Engagement gegen den Iran und keine Bundeswehr im Irak. Sie machen in Warschau Aufwartung, aber das Zentrum für Vertreibungen im Wahlprogramm trübt die Freude. Mit Paris will man nicht mehr so stark befreundet sein, aber natürlich geht es nicht ohne die Franzosen. Man will nicht so alteuropäisch sein wie Schröder und Chirac, aber es fehlt eine bessere Idee, wie Europa in Schwung kommen könnte. Putin soll nicht mehr so hofiert werden, aber natürlich bleibt das Verhältnis zu Moskau zentral. China bezieht Tadel wegen Menschenrechtsverletzungen, aber seine Märkte lässt sich eine noch unternehmerfreundlichere Regierung nicht entgehen.

Business as usual also, und genau wie Schröder in seinen ersten Jahren würde sich Angela Merkel am liebsten auf Innen- und Wirtschaftspolitik konzentrieren. Doch die weltpolitische Entwicklung wird auch ihr den Primat der Außenpolitik als "Chefsache" aufzwingen, worauf sie ebenso wenig vorbereitet wirkt. Insofern sind die Ratschläge von Interesse, die konservative und unionsnahe Fachmenschen der Auswärtigen Politik formulieren. Einen "Visionär" vom Schlage des Steuerrechtlers Paul Kirchhofs findet man unter ihnen nicht, aber ältere Fahrensleute und hungrige Newcomer bieten sich als Stichwortgeber für die Zeit nach Rot-Grün an. Dabei zeigt sich im liberal-konservativen Spektrum ein altes Schisma zwischen denen, die sich als Atlantiker bekennen und den USA unterordnen möchten, und solchen, denen Schröders "Gaullismus" eigentlich ganz recht war und seine Vision einer europäischen Großmacht Deutschland im Prinzip einleuchtete. Sicher gibt es eine politisch-kulturelle Distanz der Linken zu Amerika, aber Antiamerikanismus war stets mehr eine Domäne der deutschen Rechten, deren Säulenheiliger nach dem Krieg, Franz Josef Strauß, stets als nuklearer Gaullist auftrat.

Die Hervorkehrung nationaler Interessen durch Bundeskanzler Schröder müsste konservative Dauerklagen über den deutschen Postnationalismus verstummen lassen: Nicht Kohl, sondern Rot-Grün beendete die viel gescholtene Scheckbuchdiplomatie, und dass die deutsche Politik machtvergessen und geschichtsbesessen sei, kann man nach Schröders Kurskorrekturen nicht mehr behaupten. Die wohlfeile Klage über handwerkliche Fehler der rot-grünen Außenpolitik reicht nicht mehr aus, wenn man selbst die Geschicke der Nation in unsicheren Zeiten bestimmen will. Zu einem Neo-Gaullismus fehlt heute freilich so gut wie alles, beginnend mit einem französischen Partner, so gut sich Sarkozy und Merkel verstehen mögen. Es bleibt nur ein riskanter Post-Atlantizismus, der den von den USA und Großbritannien betriebenen Paradigmenwechsel der Internationalen Beziehungen nachvollzieht und den Akzent von multilateraler Diplomatie auf hegemoniegestützte Sicherheitsprävention weltweit verlagert. In diese Richtung zielt Merkels Vorschlag, im Kanzleramt einen nationalen Sicherheitsrat zu installieren, wogegen die Liberalen schon Protest eingelegt haben. Auch eine Annäherung an Tony Blair, Europas neuen starken Mann, passt in dieses Szenario, das homeland security mit rapid response verbindet. Doch solche Planspiele treiben die üblichen Widersprüche hervor: neokonservativer Internationalismus provoziert realistische Isolationsgelüste, zumal die Bundeswehr nicht wirklich fähig ist, die deutsche Sicherheit am Hindukusch, Kaukasus oder Horn von Afrika zu garantieren.

Auch in Deutschland gewinnt man mit Außenpolitik in der Regel keine Wahlen. Die Ausnahme war 2002, aber solange sich der Konflikt mit dem Iran nicht aufheizt, kann Schröder den tief sitzenden Pazifismus der (nicht nur Ost-)Deutschen nicht entscheidend für sich mobilisieren. Gleichwohl wird mit ihm auch eine Ostdeutschland entwachsene Kanzlerin rechnen und jeden Eindruck von Botmäßigkeit gegenüber Washington vermeiden müssen. Kontinuität bleibt das Gebot der Stunde, und womöglich bedurfte es eines rot-grünen Intermezzos, um in einer stark veränderten Welt eine deutsche "Weltpolitik mit Maß und Ziel" (Hans-Peter Schwarz) ins Werk zu setzen, wie es sich die Konservativen vorstellen.

Claus Leggewie, geboren 1950 in Wanne-Eickel, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen und Direktor des dortigen Zentrums für Medien und Interaktivität. Er studierte Sozialwissenschaften und Geschichte in Köln und Paris und promovierte bei Bassam Tibi über Frankreichs Kolonialpolitik in Algerien. Nach der Habilitation wurde er 1986 zum Professor an der Universität Göttingen ernannt und wechselte 1989 an die Universität in Gießen. Von 1995 bis 1997 lehrte Leggewie als erster Inhaber des Max-Weber-Chair am Center for European Studies an der New York University. Zurückgekehrt nach Gießen, wurde er zum Wintersemester 1999/2000 als Fellow an das Wissenschaftskolleg Berlin berufen. Leggewies Thema ist die "kollektive Identität postmoderner Gesellschaften im Zeitalter der Globalisierung". Seine Bücher handeln unter anderem vom "Islam im Westen" (1993), vom Internet (1999) und von Amerika ("Amerikas Welt: Die USA in unseren Köpfen"; 2000).
Gerade bei Hanser erschienen ist sein Buch (mit Erik Meyer) "Ein Ort, an den man gerne geht. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik 1989".