Aus Männersicht

19.02.2009
Eine schöne, lebenshungrige "Lady" steht im Zentrum von Willa Cathers 1923 erschienenen Roman "Die Frau, die sich verlor". Ihr Kampf um Freiraum und Selbstentfaltung wird in der Neuausgabe aus dem Blickwinkel des jungen Niel beschrieben, der sie zunächst verehrt, sich dann jedoch enttäuscht abwendet.
Die akademische Kritik hat die amerikanische Erzählerin Willa Cather (1873-1947) vor wenigen Jahrzehnten wiederentdeckt. Sie galt formal als rückwärtsgewandt, thematisch an die Besiedlungsgeschichte des amerikanischen Westens gebunden. Inzwischen zählt sie zu den Großen der Erzählliteratur.

Weil sie ihren eigenen Weg ging, lässt sie sich weder vereinnahmen, noch leicht einordnen, hat aber, wiewohl sie die Moderne ablehnte, in deren Geschichte einen Platz gefunden. Kritiker betonen die kunstvolle Einfachheit ihrer Sprache und die Genauigkeit ihrer sinnlich-konkreten Darstellungskraft. Der Knaus Verlag München hat nun mit "Die Frau, die sich verlor", Cathers sechstem Roman, der 1923 erschien, seine Neuausgabe der Werke von Willa Cather fortgesetzt.

Im Zentrum dieses Romans steht eine Frau, die der Leserin nur aus Männersicht begegnet. Mrs. Forrester ist in zweiter Ehe mit dem 25 Jahre älteren Eisenbahn-Magnaten, Captain Daniel Forrester, verheiratet, der sich einen Jugendtraum erfüllt, in der pastoralen Landschaft des amerikanischen Westens ein Haus baut, sich zur Ruhe setzt und Rosen züchtet.

Seine lebenshungrige Frau Marian versucht ihre Rolle als "Lady" im engen Rahmen gelegentlicher Bridge- und Dinnerabende mit Charme zu spielen, während Leben verrinnt, Hoffnungen sich zerschlagen, Vermögen verloren geht. Der dominante Blick auf Mrs. Forrester ist der des jungen Niel, der sie zuerst durch die Augen des Kindes als schöne fürsorgliche Muttergestalt verehrt, später, als Halbwüchsiger, zum ästhetisch verklärten Objekt seiner Sehnsüchte macht - bis er entdeckt, dass sie, der er gerade einen Strauß taufrischer wilder roter Rosen bringen will, ihren Mann betrügt.

Der körperliche Zerfall des Captain und der Verlust seines Vermögens markieren einen gesellschaftlichen Umbruch, in dem die alte "Aristokratie" charakterstarker Pioniere einer neuen Generation skrupelloser Rechtsverdreher und Spekulanten Platz macht. Die schöne Mrs. Forrester, die in Niels Augen die Tugenden der alten Gesellschaft verkörperte, scheint nun auf die Stufe der neuen gesellschaftlichen Kräfte abzugleiten, deren hässlichstem Vertreter sie sich leichtfertig überlässt.

Ehe ihm die idealisierte Lady ganz verloren geht, entzieht sich Niel physisch ihrer Gegenwart. Erst Jahre später hört er von ihrem neuen Leben in Südamerika als Dame der besseren Gesellschaft und verheiratet mit einem reichen "alten Kauz".

Der Captain hatte gern von der magischen Kraft des Träumens erzählt: wie der Westen zuerst erträumt wurde, bevor er erobert werden konnte. Die Träume von Mrs. Forrester, die sich nur erahnen lassen, resultieren aus der Kluft zwischen lächelndem Rollenspiel und dem leidenschaftlichen Verlangen nach intensiverem Leben, dessen Einlösung Niels schönes Bild von ihr zerstört.

Bei einem Dinner lässt Niel Mrs. Forrester die Romanze ihrer ersten Begegnung mit dem Captain erzählen: wie sie bei einer waghalsigen Kletterparty abstürzte, sich beide Beine brach; wie er sie auf starken Armen den Berg hinuntertrug und gesund pflegte.

Lebenswagnis und Abhängigkeit - dieser Widerspruch kennzeichnet Möglichkeiten und Grenzen ihrer Selbstentfaltung. Ihr rebellisches Spiel mit einer Rolle, die sie einengt, ihr aber auch Halt gibt, lässt die Frage offen, ob sich am Ende ihr Lebenstraum erfüllt hat oder gerade hier sein Scheitern augenfällig wird. Denn im "Sich-Verlieren" der Heldin wird auch die Begrenztheit einer Gesellschaft deutlich, die ihren Frauen Selbstbehauptung nur gestattet, wenn ein "Kapitän" sie trägt und hält.

Der Titel des Romans ist vieldeutig: Wie die Lady entzieht sich auch die Erzählung ihrem Leser, weil Cather vieles ausspart. Das virtuose In- und Nebeneinander von Lustvoll-sinnlich-Wahrgenommenem und Atmosphärisch-Suggestivem macht den Reiz dieses kurzen Romans aus, stellt aber auch jede Übersetzerin vor Probleme.

Eva Brückner-Tuckwiller hat sie vorzüglich gelöst. Dies und das erhellende Nachwort von Sybille Mulot machen die deutsche Ausgabe von Cathers melancholisch-sinnenfreudigem Romans zum Lesevergnügen.

Rezensiert von Heinz Ickstadt

Willa Cather: Die Frau, die sich verlor
Übersetzt von Eva Brückner-Tuckwiller
Mit einem Nachwort von Sybille Mulot
Knaus, München 2009
160 Seiten, 16,95 Euro